Arbeitsrecht19.12.2022 Newsletter

Fokus Arbeitsrecht - 4. Quartal 2022

Vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle auf den Anfang Dezember 2021 unterzeichneten Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Koalition geblickt. Bislang ist davon in arbeitsrechtlicher Hinsicht nicht viel umgesetzt worden.

Dabei brennt den Unternehmen gerade das Thema „Arbeitszeiterfassung“ unter den Nägeln. Das wird nicht zuletzt durch die überraschende Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 befeuert. Nach aktuellem Stand dürfte im ersten Quartal des kommenden Jahres ein erster Gesetzentwurf der Regierung zur Arbeitszeiterfassung zu erwarten sein.

In der aktuellen Ausgabe des Fokus Arbeitsrecht finden Sie den gewohnten Überblick über die wichtigsten arbeitsgerichtlichen Entscheidungen, Neuigkeiten zum Mindestlohn sowie die ab dem 01.01.2023 geltenden Sozialversicherungsrechengrößen. Schließlich möchten wir Sie auf unser neues Legal Tech Tool hinweisen, mit dem Sie Compliance-Risiken bei Fremdpersonaleinsatz in Ihrem Unternehmen schnell und einfach online überprüfen können.

Wir wünschen Ihnen und Ihren Familien erholsame Feiertage und alles Gute für das Jahr 2023!

 

1. Neue Rechtsprechung

1.1 Schwerbehindertenvertretung besteht bei unterschrittenem Schwellenwert fort

1.2 Betriebliche Eingliederung einer Führungskraft in der Matrixstruktur

1.3 Gesamtbetriebsrat: Auch unternehmensfremde Arbeitnehmer dürfen entsendet werden

1.4 Interne Datenschutzbeauftragte genießen Sonderkündigungsschutz

1.5 Tätigkeit in leitender Position per se kein Befristungsgrund

1.6 Versetzung ins Ausland: Wie weit reicht das Weisungsrecht des Arbeitgebers nach § 106 GewO?

1.7 Fremdpersonaleinsatz – Grenzen der Unterrichtung des Betriebsrats

1.8 Kündigung ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats ist grobe Pflichtverletzung

1.9 Keine Eignung einer Videoüberwachungsanlage zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeit

1.10 Recht auf (digitale) Nichterreichbarkeit?

 

2. Rechtsentwicklungen

2.1 Neues aus Europa: Richtlinie über angemessene Mindestlöhne

2.2 Sozialversicherungsrechengrößen 2023

 

3. Legal Tech:

Neues Tool zum Fremdpersonaleinsatz – Compliance Check

 

1. Neue Rechtsprechung

1.1 Schwerbehindertenvertretung besteht bei unterschrittenem Schwellenwert fort

Die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung endet nicht vorzeitig, wenn die Zahl der Schwerbehinderten in einem Betrieb nachträglich unter fünf absinkt. Maßgebend ist einzig die Anzahl der Schwerbehinderten im Zeitpunkt der Wahl, so das BAG mit Urteil vom 19.10.2022 – 7 ABR 27/21.

Die Parteien stritten um die Fortdauer der Schwerbehindertenvertretung. Ein Jahr nach deren Wahl sank die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb auf unter fünf. Das Unternehmen erklärte die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung daraufhin für beendet. Die Schwerbehindertenvertretung forderte das Unternehmen sodann auf, ihren Fortbestand bis zum Ablauf der ordentlichen Amtszeit anzuerkennen. Dies lehnte das Unternehmen ab.

Nachdem sowohl das ArbG als auch das LAG Köln den hiergegen gerichteten Antrag der Vertrauensperson zurückgewiesen hatten, hatte diese mit ihrer Rechtsbeschwerde vor dem BAG Erfolg. Das Gesetz sehe keine Regelung vor, nach der das Absinken der Anzahl von Schwerbehinderten unter den Schwellenwert des § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX dazu führe, dass das Amt der Schwerbehindertenvertretung erlösche. Eine vorzeitige Beendigung sei auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen oder aus dem Sinn und Zweck des Schwellenwerts geboten.

Die – überraschend spät – gewonnene Rechtssicherheit ist für die Praxis erfreulich. Zwar erlischt das Amt nach § 177 Abs. 1 S. 3 SGB IX vorzeitig, wenn die Vertrauensperson es niederlegt, aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet oder die Wählbarkeit verliert. Mangels ausdrücklicher Regelung für den Fall, dass der Schwellenwert nachträglich unterschritten wird, war die Rechtsfolge jedoch lange Zeit umstritten. Anders als die Vorinstanzen hat das BAG den im Betriebsverfassungsrecht für den Betriebsrat geltenden Grundsatz, wonach die Amtszeit während der Wahlperiode endet, wenn die Zahl der wahlberechtigten Beschäftigten unter fünf sinkt, nicht auf die Schwerbehindertenvertretung übertragen. Bislang liegt nur die Pressemitteilung vor, die Entscheidungsgründe dürfen mit Spannung erwartet werden. 

Für Unternehmen gilt ab sofort, dass die Schwerbehindertenvertretung während der gesamten Amtsperiode von vier Jahren ungeachtet der (nachträglich veränderten) Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb zu beteiligen ist. Steigt die Zahl bis zum Zeitpunkt der turnusmäßigen (Neu-)Wahl nicht wieder auf mindestens fünf schwerbehinderte Beschäftigte an, hat diese zu unterbleiben.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die einmal gewählte Vertrauensperson für den Zeitraum der vierjährigen Amtszeit sowie ein Jahr danach den Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG genießt.

Dr. Johannes Kaesbach

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1.2 Betriebliche Eingliederung einer Führungskraft in der Matrixstruktur

Ob eine Führungskraft in einen Betrieb eingegliedert ist, richtet sich nicht danach, ob sie befugt ist, betriebszugehörige Beschäftigte zu ermahnen, abzumahnen oder zu kündigen. Maßgebend ist vielmehr, ob sie tatsächlich in die betriebliche Arbeitsorganisation integriert wird. Dies erfordert eine Gesamtwürdigung im Einzelfall. Es kommt nach der Entscheidung des BAG vom 14.06.2022 – 1 ABR 13/21 nicht auf die physische Anwesenheit „vor Ort“ an.

Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen dem Unternehmen und einem Betriebsrat war dessen Beteiligung im Rahmen einer Versetzung nach § 99 BetrVG. Das Unternehmen betreibt als privates Eisenbahnunternehmen Schienenverkehr u. a. in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen (NRW) sowie Niedersachsen und Bremen (NDS/HB).

Der Antragsteller war der im Betrieb NRW gewählte Betriebsrat. Daneben existierte auch ein Betriebsrat für den Betrieb des Unternehmens in NDS/HB. Eine Führungskraft eines niedersächsischen Standorts wurde zum 01.02.2020 mit Zustimmung des für den Betrieb NDS/HB errichteten Betriebsrats als Leiterin Betriebsmanagement eingesetzt. Sie war in dieser Position Vorgesetzte der Langfristdisponenten, die sowohl in NRW als auch in NDS/HB beschäftigt waren, und für die sie Jahrespläne erstellte. Auf Grundlage dieser Jahrespläne legte (auch) der im Betrieb NRW tätige Langfristdisponent den Einsatz des dort beschäftigten Personals konkret nach Ort und Zeit fest.

Der antragstellende Betriebsrat NRW vertrat die Auffassung, bei der Versetzung der Führungskraft auf die Stelle Leiterin Betriebsmanagement sei seine Zustimmung nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG erforderlich gewesen, da sie auch in den Betrieb NRW eingegliedert gewesen sei.

Diese Auffassung teilte das BAG nicht. Eine Eingliederung der Führungskraft in den Betrieb NRW habe nicht vorgelegen. Eine tatsächliche physische Anwesenheit „vor Ort“ sei dafür nicht entscheidend. Diese könne allenfalls ein starkes Indiz sein. Wichtig sei vielmehr eine Gesamtwürdigung der Umstände. Fachliche Weisungsbefugnisse der Führungskraft müssten dazu führen, dass die Führungskraft dadurch in die operativen Aufgaben des Betriebes oder in die dortigen Arbeitsprozesse eingebunden würde. Es müsse sich eine tatsächliche Zusammenarbeit mit den im Betrieb Beschäftigten ergeben.  Dies sei bei der Führungskraft in Bezug auf den Betrieb NRW nicht der Fall gewesen. Ob disziplinarische Befugnisse bestünden, sei für die Frage der Eingliederung in einen Betrieb nicht relevant.

Damit erteilt das BAG der Auffassung eine deutliche Absage, disziplinarische Weisungsbefugnis als maßgebliches Kriterium für die Frage der betrieblichen Eingliederung einer Führungskraft innerhalb einer Matrix-Struktur heranzuziehen. In der Praxis wird man daher nicht umhinkommen, die Frage nach Art und Ausmaß der tatsächlichen operativen Zusammenarbeit der Führungskraft mit (weisungsabhängigen) Beschäftigten zu beantworten.

Dies ist in der Praxis ein nicht immer leicht zu handhabendes Kriterium. Personelle Maßnahmen gegenüber einer Führungskraft sind unternehmenspolitisch oftmals sensibel. Es bleibt daher zweifelhaft, ob zukünftig vorsorglich alle in Betracht kommenden Betriebsräte beteiligt werden sollten.

Kathrin Vossen

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1.3 Gesamtbetriebsrat: Auch unternehmensfremde Arbeitnehmer dürfen entsendet werden

Der Betriebsrat eines Gemeinschaftsbetriebs darf auch Betriebsratsmitglieder in den Gesamtbetriebsrat eines Trägerunternehmens entsenden, die in keinem Arbeitsverhältnis zu diesem Trägerunternehmen stehen. Das hat das BAG mit Beschluss vom 01.06.2022 – 7 ABR 41/20 entschieden. Wird ein Gemeinschaftsbetrieb gebildet, dürfen sich daher auch unternehmensfremde Arbeitnehmer auf Unternehmensebene beteiligen und mitbestimmen.

Die Beteiligten stritten darüber, ob ein Gesamtbetriebsrat wirksam errichtet worden war. Die Arbeitgeberin, eine Drogeriemarktkette, führte gemeinsam mit einem Fremdunternehmen ein Verteilzentrum als Gemeinschaftsbetrieb. Der Vorsitzende des zugehörigen Gemeinschaftsbetriebsrats bei der Drogeriemarktkette war Arbeitnehmer des Fremdunternehmens. Der Betriebsrat der Drogeriemarktkette behauptete, dass eine Vertretung innerhalb des Gesamtbetriebsrats durch unternehmensfremde Beschäftigte nicht zulässig sei und der Gesamtbetriebsrat daher nicht wirksam errichtet worden sei.

Das BAG entschied, dass keine Pflicht des Betriebsrats des Gemeinschaftsbetriebes bestünde, nur unternehmensangehörige Betriebsratsmitglieder in den Gesamtbetriebsrat der Trägerunternehmen zu entsenden. Zudem wirke sich eine fehlerhafte Entsendung eines Betriebsratsmitglieds in den Gesamtbetriebsrat nicht auf die Existenz des Gesamtbetriebsrats als betriebsverfassungsrechtliches Gremium aus.

Nach Ansicht des BAG werden die Interessen der im Gemeinschaftsbetrieb Beschäftigten von allen Mitgliedern des Gemeinschaftsbetriebsrats unabhängig von deren Unternehmenszugehörigkeit wahrgenommen. Eine Entsendung in den Gesamtbetriebsrat knüpft nach § 47 Abs. 2 S. 1 BetrVG lediglich an die Mitgliedschaft im lokalen Betriebsrat an. Der Gesetzgeber habe die Möglichkeit einer Entsendung aus einem Gemeinschaftsbetriebsrat in einen Gesamtbetriebsrat erkannt und einen Regelungsbedarf nur in § 47 Abs. 9 BetrVG gesehen. Die Möglichkeit der Gesamtbetriebsratszugehörigkeit von unternehmensfremden Betriebsratsmitgliedern eines Gemeinschaftsbetriebs entspräche gerade dem Prinzip der Gesamtbetriebsratsbildung. Demnach wird der Gesamtbetriebsrat durch Mitglieder legitimiert, die aus allgemeinen Betriebsratswahlen hervorgegangen seien.

Das BAG hat damit für den Gesamtbetriebsrat erstmalig entschieden, was für unternehmensfremde Mitglieder eines Konzernbetriebsrats schon höchstrichterlich entschieden wurde. Betreibt ein Unternehmen ein Gemeinschaftsbetrieb mit einem anderen Unternehmen, nimmt es damit in Kauf, dass sowohl im örtlichen Gemeinschaftsbetriebsrat als auch auf Unternehmensebene im Gesamtbetriebsrat unternehmensfremde Beschäftigte vertreten sein können.

Dr. Alexander Willemsen

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1.4 Interne Datenschutzbeauftragte genießen Sonderkündigungsschutz

Der bestehende Sonderkündigungsschutz eines internen Datenschutzbeauftragten nach dem BDSG ist sowohl mit Unionsrecht als auch mit dem nationalen Grundrechtsschutz vereinbar (BAG vom 25.08.2022 – 2 AZR 225/20). Auch während einer vereinbarten Probezeit ist ein intern bestellter Datenschutzbeauftragter nur aus wichtigem Grund kündbar. Umstrukturierungsmaßnahmen stellen keinen ausreichenden, wichtigen Grund dar. 

Die Beklagte stellte die Klägerin zum 15.01.2018 als „Teamleiter Recht“ ein und bestellte diese sodann zur betrieblichen Datenschutzbeauftragten. Am 13.07.2018 kündigte die Beklagte der Klägerin noch vor Ablauf der Probezeit ordentlich zum 15.08.2018 und berief sich hierzu auf eine Umstrukturierungsmaßnahme. Die Funktion des Datenschutzbeauftragten sollte auf einen Externen ausgelagert werden.

Die Klägerin erhob Kündigungsschutzklage. Sie wendete ein, dass sie als Datenschutzbeauftragte Sonderkündigungsschutz nach dem BDSG genieße und daher nur aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden könne. Die Beklagte wendete ein, dass der Sonderkündigungsschutz des internen Datenschutzbeauftragten nach dem BDSG nicht mit der DSGVO vereinbar sei und ebenso gegen ihre Grundrechte verstoße.

In einem durch den EuGH entschiedenen Vorabentscheidungsersuchen des BAG erachtete der EuGH den im BDSG verankerten Sonderkündigungsschutz für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten für konform mit dem Unionsrecht (Urteil vom 22.06.2022 – C-534/20). Das BAG hat die Kündigung der Klägerin nun für unwirksam erklärt. Der Sonderkündigungsschutz diene der Gewährleistung der vollständigen Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten, sodass der Klägerin auch in der Probezeit nur aus wichtigem Grund hätte gekündigt werden können. Umstrukturierungsmaßnahmen erfüllten diese Voraussetzung nicht.

Eine Verletzung der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG der Beklagten hinsichtlich ihrer Erwerbs- und Leistungstätigkeit sei darin nicht zu sehen, da dieser der grundrechtliche Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten entgegenstünde. Vielmehr sei der Sonderkündigungsschutz gegenüber vergleichbaren Funktionen wie z. B. dem Immissionsschutzbeauftragten identisch ausgestaltet.

Das Urteil des BAG ist zwar wenig überraschend, schafft aber die für die Praxis lang ersehnte Klarheit. Das BAG bestätigt abschließend, dass die Entscheidung für einem internen oder einen externen Datenschutzbeauftragten unternehmensseitig gut überlegt sein will. Einem internen Datenschutzbeauftragten kommt aufgrund § 4 Abs. 6 BDSG Sonderkündigungsschutz zu, sodass eine Kündigung regelmäßig nur bei grobem Fehlverhalten möglich ist.

Zwar betont das BAG, dass grundsätzlich eine außerordentliche Kündigung aus betrieblichen Gründen möglich sein kann. Ein solche ist allerdings an umfangreiche Voraussetzungen geknüpft. Die Messlatte für die Unzumutbarkeitsgrenze ist dementsprechend sehr hoch. Soweit die externe Bestellung des Datenschutzbeauftragten nicht in Betracht kommt, ist auch eine befristete Ernennung zum internen Datenschutzbeauftragten zu erwägen. Voraussetzung hierfür ist ein sachlicher Grund.

Alexandra Groth

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1.5 Tätigkeit in leitender Position per se kein Befristungsgrund

Im Spitzensport erkennt die Rechtsprechung an, dass aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung von Arbeitsverträgen aus sachlichem Grund gerechtfertigt sein kann. Erwartete Höchstleistungen bei Führungskräften sind allerdings nicht geeignet, eine Befristung in gleicher Weise zu rechtfertigen.

Spitzensportler haben typischerweise nicht die Möglichkeit, die vertraglich geschuldete Höchstleistung dauerhaft erbringen zu können.  Das begründet ein berechtigtes Interesse der Parteien an einem befristeten Arbeitsverhältnis. Hieran angelehnt begründen große, internationale Konzerne oft, dass sie davon ausgehen, dass Führungskräfte das geforderte hohe Leistungsniveau und einen „wachen unternehmerischen Geist“ nicht über einen langen Zeitraum hinweg gewährleisten können. Solchen Überlegungen erteilte das BAG nun eine klare Absage: Tätigkeiten als Führungskraft oder in leitenden Positionen rechtfertigen die Befristung des Arbeitsvertrages nicht aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung (BAG vom 01.06.2022 – 7 AZR 151/21).

Die Parteien stritten über die Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsverhältnisses des Klägers als geschäftsführender bzw. als kaufmännischer Direktor eines Klinikums. Der Kläger war zunächst auf Grundlage eines bis Juni 2018 befristeten Dienstvertrages angestellt. Mit Änderungsvertrag vereinbarten die Parteien im Juni 2015 eine Befristung bis 31.12.2019 sowie eine Anhebung der Vergütung. Der Kläger machte vor Gericht die Unwirksamkeit der im Änderungsvertrag vereinbarten Befristung gelten.

Das BAG bestätigte, dass der Sachgrund der Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG in erster Linie die Befristung von verfassungsrechtlich geprägten Arbeitsverhältnissen, etwa im Bereich der Rundfunk- oder Kunstfreiheit, rechtfertige. Der Anwendungsbereich der Norm sei zwar nicht auf diese Fälle beschränkt. Jedoch setze der Sachgrund voraus, dass die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweise, aus denen sich ein berechtigtes Interesse insbesondere des Unternehmens ergebe, statt eines unbefristeten nur ein befristetes Arbeitsverhältnis abzuschließen. Dies erfordere eine Abwägung der beiderseitigen Interessen im Einzelfall.

Im vorliegenden Fall sah das BAG in der Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses und der Art der Arbeitsleistung keine überwiegenden Interessen der Beklagten an einer Befristung. Deshalb reiche weder eine weitgehende „Weisungsfreiheit“ des Klägers noch eine mit seiner Position als Direktor einhergehenden Stellung als „Gegenorgan zum Vorstand“ oder gar eine geschäftsführerähnliche Stellung aus. Allein der Umstand, dass ein Beschäftigter leitender Angestellter im Sinne des § 14 Abs. 2 KSchG sei, bilde keinen die Befristung rechtfertigenden Sachgrund. Das BAG betont vielmehr, dass für leitende Angestellte dieselben Maßstäbe für die Beurteilung des Vorliegens eines Sachgrundes wie für andere Beschäftigte gelten.

Die Entscheidung ist wenig überraschend. Das BAG zeigt erneut auf, dass die Sachgrundbefristung als Ausnahme zu dem gesetzlich vorgesehenen Regelfall des unbefristeten Arbeitsverhältnisses strengen Anforderungen unterliegt. Die gesetzlichen Sachgründe des Katalogs in § 14 Abs.1 TzBfG sind daher tendenziell eng auszulegen. Für Unternehmen bleibt nach dieser eindeutigen Entscheidung wenig Spielraum für befristete Verträge in Führungspositionen.  

Jennifer Bold

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1.6 Versetzung ins Ausland: Wie weit reicht das Weisungsrecht des Arbeitgebers nach § 106 GewO?

Unternehmen können Beschäftigte auch ins Ausland versetzen, wenn nicht im Arbeitsvertrag oder den Umständen nach konkludent etwas anderes vereinbart worden ist. § 106 GewO begrenzt das Weisungsrecht des Unternehmens nicht auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland. Das hat das Bundesarbeitsgericht kürzlich mit Urteil vom 30.11.2022 – 5 AZR 336/21 entschieden und damit das vorinstanzliche Urteil des LAG Nürnberg vom 23.04.2021 – 8 Sa 450/20 bestätigt.

Der Kläger, ein am Flughafen Nürnberg stationierter Pilot der irischen Airline Ryanair, hatte sich gegen eine Versetzung zu deutlich geringeren Bezügen an den Flughafen Bologna gewandt. Zuletzt verdiente er aufgrund eines von der Beklagten mit der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) geschlossenen Vergütungstarifvertrags knapp 12.000 Euro brutto monatlich. Arbeitsvertraglich war ein Jahresgehalt von etwas über 75.000 Euro und die Versetzbarkeit an jeglichen anderen Unternehmensstandort vereinbart worden. Dazu wurde ebenfalls festgehalten, dass sich die Vergütung dann nach dem dort geltenden System richtet.

Das BAG hat entschieden, dass das Weisungsrecht des Arbeitsgebers nach § 106 GewO auch die Versetzung an einen ausländischen Arbeitsort umfasst. Dies gilt, wenn wie im Streitfall arbeitsvertraglich ein bestimmter inländischer Arbeitsort nicht fest vereinbart, sondern ausdrücklich eine unternehmensweite Versetzungsmöglichkeit vorgesehen sei. Eine territoriale Begrenzung sei § 106 GewO nicht zu entnehmen.

Eine Grenze zogen die Bundesrichter dann allerdings doch: Die Ausübung des Weisungsrechts im Einzelfall unterliege einer Billigkeitskontrolle. Heißt: Der Arbeitgeber muss einen sachlichen Grund haben und die Versetzung muss dem Arbeitnehmer zumutbar sein. Zu Recht habe das LAG Nürnberg angenommen, dass die vorliegende Maßnahme billigem Ermessen entspreche. Die Versetzung sei Folge der unternehmerischen Entscheidung, die Homebase am Flughafen Nürnberg aufzugeben. Andere offene Stellen im Inland habe es nicht gegeben. Dass der Kläger den Anspruch auf das höhere tarifliche Entgelt verliere, liege an dem beschränkten Geltungsbereich des Tarifvertrags auf die in Deutschland stationierten Piloten.

Mit dieser Entscheidung des BAG eröffnen sich für internationale Unternehmen mit Standorten in Deutschland neue Möglichkeiten, aber auch Risiken. Es sollte nun genau geprüft werden, welche Formulierungen zu Arbeitsort und Versetzungsklausel in den Arbeitsverträgen enthalten sind und welche Folgen das haben kann.

Abgewogen werden muss dabei der Wunsch nach größtmöglicher Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen, die auch eine Versetzung ins Ausland erlauben, mit der hierdurch ggf. einhergehenden Erschwernis von betriebsbedingten Kündigungen. Diese Wechselwirkung sollten Arbeitgeber bei der Gestaltung der Arbeitsverträge stets mitbedenken und eine auf die individuelle Struktur und Personalpolitik des Unternehmens abgestimmte Balance schaffen.

Anja Dombrowsky

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1.7 Fremdpersonaleinsatz – Grenzen der Unterrichtung des Betriebsrats

Der Unterrichtungsanspruch des Betriebsrats über das in einem Unternehmen eingesetzte Fremdpersonal gibt dem Betriebsrat ein scharfes Schwert an die Hand, das Unternehmen während ihrer umsatzstärksten Monate empfindlich treffen kann. Umso erfreulicher, dass das LAG Baden-Württemberg mit Beschluss vom 12.10.2022 – 4 TaBV 3/21 – klargestellt hat, dass ein Unterrichtungsanspruch des Betriebsrates nach § 80 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BetrVG die Darlegung eines Aufgabenbezugs durch den Betriebsrat erfordert. Das Unternehmen sei nicht zwingend verpflichtet, die Namen des Fremdpersonals zu benennen.

Die Beteiligten stritten in der Beschwerdeinstanz zuletzt über die Frage: Ob und in welchem Umfang ist das Unternehmen verpflichtet, den Betriebsrat über Fremdpersonaleinsätze von konzernverbundenen Serviceunternehmen zu unterrichten? Das Unternehmen hatte Arbeiten und Dienstleistungen ausgegliedert und durch konzerneigene Servicegesellschaften und deren Mitarbeiter erbringen lassen. Im Beschwerdeverfahren bestätigte das LAG Baden-Württemberg den erstinstanzlichen Beschluss zwar insoweit, als dass der Betriebsrat gemäß dem Wortlaut von § 80 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BetrVG über den Fremdpersonaleinsatz zu unterrichten sei („zeitlichen Umfang des Einsatzes, den Einsatzort und die Arbeitsaufgaben“). Es wies jedoch die im Beschwerdeverfahren erweiterten Anträge des Betriebsrats zurück und erklärte, dass das Unternehmen nicht verpflichtet sei, das eingesetzte Fremdpersonal im Einzelnen namentlich zu benennen.

Darüber hinaus betonte das LAG Baden-Württemberg zunächst in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG, dass ein Auskunftsanspruch in Bezug auf im Betrieb eingesetztes Fremdpersonal voraussetzt, dass der Betriebsrat die Möglichkeit eines Mitbestimmungsrechts darlegen muss. Hierfür reicht es aus, wenn der Betriebsrat aufgrund einer festgestellten betrieblichen Situation die Klärung ersucht, ob Fremdpersonal möglicherweise betrieblich eingegliedert sei und aufgrund einer unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung beispielsweise personelle Mitbestimmungsrechte bestehe. Zudem hat das LAG Baden-Württemberg die Anforderungen an eine Unterrichtung des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BetrVG konkretisiert: weder der Wortlaut der Norm, noch ein betriebsverfassungsrechtlicher Aufgabenbezug erfordere eine namentliche Benennung des Fremdpersonals. Der Wortlaut spreche von der „Beschäftigung von Personen“ und verlange keine namentliche Individualisierung, so dass die Unterrichtung ebenso gut durch die Angabe der Anzahl des Fremdpersonals erfüllt werden könne. Zudem sei eine namentliche Mitteilung nicht erforderlich, um dem Betriebsrat zu ermöglichen, seine Beteiligungsrechte der personellen Mitbestimmung auszuüben. Beteilige das Unternehmen den Betriebsrat bei einer Einstellung gem. § 99 BetrVG ordnungsgemäß, teile das Unternehmen den Namen Person ohnehin mit. Handle das Unternehmen bei einer Einstellung mitbestimmungswidrig, könne der Betriebsrat nach § 101 BetrVG gerichtlich die Aufhebung der Einstellung erwirken und den Antrag anhand des Drittunternehmens, der Abteilung sowie der durch die Person ausgeübten Tätigkeit konkretisieren.

Die Entscheidung bietet einen großen Mehrwert, da sie dem Unterrichtungsrecht im Hinblick auf einen Fremdpersonaleinsatz eine eindeutige Grenze setzt, auf die Unternehmen sich unmittelbar berufen können. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die im Weihnachts- und Ostergeschäft regelmäßig Fremdpersonal einsetzen und ihre Ressourcen ohne unnötige Auseinandersetzungen mit dem Betriebsrat einsetzen möchten.

Moritz Coché

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1.8 Kündigung ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats ist grobe Pflichtverletzung

Kündigt ein Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis, ohne vorher den Betriebsrat anzuhören, kann dies eine grobe Pflichtverletzung darstellen, so das Hessische Landesarbeitsgericht in einem aktuellen Beschluss vom 08.08.2022 – 16 TaBV 191/21.

Der Arbeitgeber erklärte im Februar 2019 gegenüber einem Arbeitnehmer eine Kündigung, ohne den Betriebsrat vorher gemäß § 102 Abs.1 BetrVG anzuhören. Der Arbeitgeber rechtfertigte dies mit der Begründung: Die Kündigung sei in Abstimmung mit dem Arbeitnehmer ausgesprochen worden, um aus einer Aufhebungsvereinbarung eine Abwicklungsvereinbarung zu machen. Im September 2020 sprach der Arbeitgeber sechs krankheitsbedingte Kündigungen aus. Auch bei diesem Mal ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats. Die unterbliebene Anhörung beruhte wohl auf einem Versehen eines Sachbearbeiters der Personalabteilung. Der Arbeitgeber sicherte jedoch dem Betriebsrat zu, dass er künftig zu jeder Kündigung angehört werde, mit Ausnahme von solchen Fällen, in denen die Kündigung auf Wunsch des Arbeitnehmers ausgesprochen werden solle.

Der Betriebsrat leitete ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren ein, mit dem Ziel: Der Arbeitgeber soll verpflichtet werden, es zu unterlassen, Kündigungen ohne vorherige Beteiligung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG auszusprechen.

Das LAG Hessen verpflichtete den Arbeitgeber antragsgemäß zur Unterlassung. Zudem begründete es seine Entscheidung mit dem Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne des § 23 Abs. 3 BetrVG. Weiter führte das LAG Hessen mit Verweis auf die geltende Rechtsprechung des BAG aus, dass keine Fallgestaltungen denkbar seien, in denen Kündigungen ohne die vorherige Anhörung des Betriebsrates möglich seien. Insbesondere könne eine Anhörungspflicht nach § 102 BetrVG nicht für Fälle verneint werden, in denen sich die Arbeitsvertragsparteien bereits im Vorfeld auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch einen Abwicklungsvertrag vollständig geeinigt hätten und der Arbeitgeber dennoch eine Kündigung aussprechen solle.

Der Beschluss des LAG Hessen bestätigt in seiner Begründung den Beschluss des BAG vom 28.06.2005 – 1 ABR 25/04, zu einer sogenannten „verabredeten Kündigung“. Danach ist eine Betriebsratsanhörung auch in Fällen von „verabredeten Kündigungen“ erforderlich. Die bedeutet: Unternehmen und Beschäftigte verständigen sich in einem Gespräch mündlich darüber, dass eine Kündigung durch den Arbeitgeber ausgesprochen und danach der Abschluss einer Abwicklungsvereinbarung erfolgen soll.

Wichtig für die Praxis: Nicht nur den Betriebsrat nach § 102 BetrVG vor jeder Kündigung anzuhören, sondern dem Betriebsrat auch die Gründe für die geplante Kündigung ordnungsgemäß mitzuteilen. Anderenfalls müssen Arbeitgeber neben individualvertraglichen auch mit betriebsverfassungsrechtlichen Konsequenzen rechnen, wenn der Betriebsrat ein Unterlassungsverfahren gegen den Arbeitgeber wegen grober Pflichtverletzung nach § 23 Abs. 3 BetrVG einleitet. Bekanntlich kann dem Arbeitgeber in einem solchen Fall auf Antrag des Betriebsrates auch ein Ordnungsgeld in Höhe von 10.000 Euro für jeden Fall der Zuwiderhandlung aufgrund unterlassener oder nicht ordnungsgemäß erfolgter Anhörung nach den Maßstäben des § 102 BetrVG drohen.

Cornelia-Cristina Scupra

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1.9 Keine Eignung einer Videoüberwachungsanlage zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeit

Das LAG Niedersachsen hat mit Urteil vom 06.07.2022 – 8 Sa 1148/20 entschieden, dass eine Videoüberwachungsanlage zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeit weder geeignet noch erforderlich ist. Konkret gilt diese Aussage aber nur für die Zulässigkeit der Datenerhebung nach dem BDSG, nicht aber für die grundsätzliche Wahl eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung im Sinne der EuGH- und BAG-Rechtsprechung.

In dem zu entscheidenden Fall des LAG Niedersachen warf ein Unternehmen einem seiner Mitarbeiter Arbeitszeitbetrug vor und sprach aus diesem Grund sowohl eine Verdachts- als auch eine Tatkündigung aus. Hintergrund war, dass der Mitarbeiter die volle Vergütung für geleistete Schichtdienste erhielt, obgleich eine Videoaufzeichnung zeigte, dass der Mitarbeiter das Werksgelände während seiner Schicht verließ, ohne sich an dem hierfür vorgesehen Drehkreuz auszustempeln.

Das LAG Niedersachsen erachtete die ausgesprochenen Kündigungen als unwirksam, da nicht erwiesen sei, dass der Mitarbeiter die vorgeworfene Pflichtverletzung begangen habe bzw. kein hinreichend dringender Verdacht für einen Arbeitszeitbetrug bestünde. Zwar sei das vorgeworfene Verhalten grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu begründen, jedoch könne im konkreten Fall diese Pflichtverletzung aber nicht durch das Unternehmen nachgewiesen werden. Zum einen bestünde ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung durch den Einsatz von Kartenlesern gewonnen Daten. Denn in der hierzu abgeschlossenen Betriebsvereinbarung wurde vereinbart, dass keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolge. Andererseits unterlägen aber auch die Videoaufzeichnungen am Werkseingang einem Beweisverwertungsverbot, da darauf hingewiesen worden sei, dass die Videoaufzeichnungen nach einer gewissen Zeitspanne gelöscht werden würden und diese Frist bereits abgelaufen sei.

Die Entscheidung des LAG Niedersachsen zeigt wieder einmal auf, dass der Inhalt von Betriebsvereinbarungen, insbesondere bei individualrechtlichen Streitigkeiten, genauestens analysiert wird. Bei der Vereinbarung einer elektronischen Anwesenheitserfassung, sollte daher vereinbart werden, dass eine Auswertung der gewonnenen Daten grundsätzlich zulässig ist. Sollte der Betriebsrat eine solche Auswertung – auch nicht bei entsprechender Beteiligung im konkreten Einzelfall – nicht akzeptieren, empfiehlt sich der Weg in die Einigungsstelle.

Die missverständliche Formulierung einer der Leitsätze der Entscheidung des LAG Niedersachsen bedarf zudem der Klarstellung: So arbeitete die erkennende Kammer präzise heraus, dass eine Videoüberwachung nicht zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten geeignet sei. Daraus wird zum Teil abgeleitet, dass eine Videoüberwachung kein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung im Sinne der  EuGH- und BAG-Rechtsprechung sei (vgl. hierzu EuGH vom 14.05.2019 – C-55/18, BAG vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21). Tatsächlich hat das LAG Niedersachsen diese Aussage aber nur im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der datenschutzrechtlichen Erhebung der Videoaufzeichnungen getroffen. Ob eine Videoaufzeichnung als Mittel der Arbeitszeiterfassung genutzt werden kann, obliegt grundsätzlich – unter Beachtung des Datenschutzrechts – der Entscheidungsbefugnis eines jeden Unternehmens.

Annabelle Marceau

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​​​​​​​1.10 Recht auf (digitale) Nichterreichbarkeit?

Nach der Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 27.09.2022 – 1 Sa 39/22) steht einem Beschäftigten in seiner Freizeit ein Recht auf (digitale) Unerreichbarkeit zu. Dem stehe auch der zeitlich minimale Aufwand, der mit dem Aufrufen und Lesen einer SMS verbunden ist, nicht entgegen.

Im besagten Fall schrieb die Arbeitgeberin einem Beschäftigten während seiner Freizeit eine SMS, in der diesem eine Dienstplanänderung mitgeteilt wurde. Der Beschäftigte nahm diese nicht zur Kenntnis und wurde daraufhin von der Arbeitgeberin abgemahnt. Hiergegen klagte der Beschäftigte vor dem LAG Schleswig-Holstein.

Das LAG gab dem Kläger Recht: Die Arbeitgeberin übe mit der Änderung eines Dienstplanes ihr Direktionsrecht aus. Werde dem Beschäftigten eine solche Weisung während seiner Freizeit per SMS zugesendet und nehme der Beschäftigte diese nicht zur Kenntnis, gehe die Änderung erst bei Dienstbeginn zu. Der Beschäftigte sei nämlich grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, sich in seiner Freizeit zu erkundigen, ob der Dienstplan geändert wurde. Dem stehe auch nicht entgegen, dass das Aufrufen und Lesen einer SMS lediglich mit einem geringen zeitlichen Aufwand verbunden ist. Das LAG betonte in diesem Zusammenhang, dass Beschäftigten in ihrer Freizeit ein Recht „auf Unerreichbarkeit“ zustehe. Es gehöre zu den vornehmlichsten Persönlichkeitsrechten eines Menschen, darüber zu entscheiden, für wen er in seiner Freizeit erreichbar sein möchte. Die Abmahnung sei daher rechtswidrig gewesen.

Praktische Relevanz hat das Urteil insbesondere in Branchen, in denen Dienstplanänderungen oftmals sehr kurzfristig veröffentlicht werden, wie etwa im Einzelhandel oder der Gastronomie. Zudem hat in vielen Bereichen die WhatsApp die E-Mail bereits abgelöst, so dass immer kurzfristiger kommuniziert wird. Spätestens im Nachgang zu dieser Entscheidung sind Arbeitgeber somit gut beraten, auf betrieblicher oder individualvertraglicher Ebene Klarheit über die (digitale) Erreichbarkeit zu schaffen. Um die Wirksamkeit entsprechender Regelungen zu gewährleisten, sollten dabei stets auch die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes in den Blick genommen werden.

Künftig könnte zudem auch ein Tätigwerden des europäischen Gesetzgebers zu erwarten sein. Das Europäische Parlament hatte bereits Anfang des Jahres 2021 ein „Recht auf Nichterreichbarkeit“ gefordert und eine Empfehlung an die Europäische Kommission zur Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens abgegeben. Wie und wann aber tatsächlich mit einer EU-weiten Regelung zu rechnen ist, ist derzeit nicht abzusehen.

Isabel Hexel

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2. Rechtsentwicklungen

2.1 Neues aus Europa: Richtlinie über angemessene Mindestlöhne

Am 14.11.2022 ist die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (RL EU 2022/2041) in Kraft getreten. Wie bereits im 2. Fokus Newsletter erwähnt Fokus Arbeitsrecht – 2. Quartal 2022 - Oppenhoff, arbeitete die EU hieran mit Hochdruck. Die Richtlinie wird ungeachtet des in Deutschland bestehenden Mindestlohngesetzes zu weitreichenden Folgen führen, denn sie zwingt die Unternehmen faktisch in die Tarifbindung. Das BMAS hat bereits verlauten lassen, diesen Weg gehen zu wollen.

Die Richtlinie enthält insbesondere drei Aspekte, die zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen sollen:

  • Gewährleistung der Angemessenheit der Mindestlöhne: Die Mitgliedstaaten mit gesetzlichem Mindestlohn müssen einen Rahmen für die Festlegung und Aktualisierung der Mindestlöhne nach klaren Kriterien schaffen. Dabei sollen die Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten mindestens alle zwei Jahre aktualisiert werden. Eine bestimmte vorgegebene Höhe des Mindestlohns hat die Richtlinie aber nicht festgelegt. Ebenso besteht keine Pflicht zur Einführung eines Mindestlohns in den Ländern, in denen es keinen gibt (Dänemark, Finnland, Schweden, Österreich, Italien und Zypern).

Die Richtlinie schlägt aber für die Angemessenheit der Mindestlöhne vor, dass die Mitgliedstaaten die Referenzwerte von 60 Prozent des Bruttomedianlohns oder 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns verwenden. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass es sich dabei um die Mindestanforderungen für einen existenzsichernden Lohn handelt.

  • Förderungen von Tarifverhandlungen zu Lohnfestsetzungen: Die Richtlinie zielt darauf ab, die Anzahl der Beschäftigten zu erhöhen, die einer tariflichen Lohnfestsetzung unterfallen. Nach Angaben der EU habe sich gezeigt, dass der Anteil von Geringverdienern in solchen Ländern tendenziell geringer ist, in denen eine hohe Tarifbindung vorliegt. In diesen Ländern sollen auch die Mindestlöhne tendenziell höher sein, als in Ländern mit einer geringeren Tarifbindung.

Daher sollen die Länder die Kapazitäten der Sozialpartner für Tarifverhandlungen stärken. Mitglieder mit einer Tarifabdeckung von weniger als 80 Prozent sollen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen mit einem Zeitplan sowie konkreten Maßnahmen erstellen. Als Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen sieht die Richtlinie verschiedene Maßnahmen vor: Die Förderung des Auf- und Ausbaus der Kapazitäten der Sozialpartner zwecks Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung, den Schutz der Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen, als auch den Schutz der Beschäftigten und der Gewerkschaftsvertreter vor Diskriminierungen etc.

  • Zugang zu dem gesetzlichen Mindestlohn: Zudem sollen die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, um den Zugang zu dem gesetzlichen Mindestlohn zu verbessern. Darunter gehören u.a. Kontrollen durch die Arbeitsaufsichtsbehörden, Gewährung leicht zugänglicher Informationen zum Mindestlohn und die Entwicklung von Möglichkeiten der Behörden, gegen Arbeitgeber vorzugehen, die sich nicht an den gesetzlichen Mindestlohn halten.

Die Mitgliedstaaten sollen die Abdeckung und Angemessenheit der Mindestlöhne überwachen und der Kommission darüber alle zwei Jahre Bericht erstatten.

In Deutschland liegt der Anteil der Tarifbindung mit 44 Prozent der Beschäftigten weit unter den angestrebten 80 Prozent. Bundesarbeitsminister Heil will dies verändern und hat für 2023 ein neues Gesetz angekündigt.

Ein möglicher Hebel, die Tarifbindung zu forcieren, wird darin liegen, die Tariftreuegesetze dahingehend weiter auszuprägen, dass öffentliche Vergaben nur an Unternehmen erfolgen, die Tariflohn zahlen. Ein weiterer Hebel kann in der Ausweitung der Regelungen zur Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 TVG liegen. Theoretisch könnte der Gesetzgeber über diesen Weg tarifliche Mindestlöhne in alle Branchen bringen. Es bleibt spannend.

Jörn Kuhn

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​​​​​​​2.2 Sozialversicherungsrechengrößen 2023

Die Sozialversicherungsrechengrößen-Verordnung 2023 tritt am 01.01.2023 in Kraft. Die wichtigsten Rechengrößen für das Jahr 2023 im Überblick:

  • Beitragsbemessungsgrenze Rentenversicherung

Die Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung steigt ab dem 01.01.2023 auf 7.300 Euro pro Monat (2022: 7.050 Euro/Monat). Die Beitragsbemessungsgrenze (Ost) steigt auf 7.100 Euro pro Monat (2022: 6.750 Euro/Monat).

  • Beitragsbemessungsgrenze Krankenversicherung

Die bundesweit einheitliche Beitragsbemessungsgrenze für das Jahr 2023 in der gesetzlichen Krankenversicherung steigt auf 59.850 Euro jährlich (2022: 58.050 Euro) bzw. 4.987,50 Euro monatlich (2022: 4.837,50 Euro).

  • Jahresarbeitsentgeltgrenze Krankenversicherung

Die ebenfalls bundesweit einheitliche Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung (Jahresarbeitsentgeltgrenze) steigt ab Januar 2023 auf 66.600 Euro (2022: 64.350 Euro).

  • Bezugsgröße

Die Bezugsgröße, die das Durchschnittsentgelt in Deutschland aus dem vorletzten Kalenderjahr darstellt, ist wichtig zum Beispiel zur Ermittlung der Mindestbeitragsbemessungsgrundlagen für freiwillige Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung oder zur Berechnung der Beiträge von versicherungspflichtigen Selbständigen in der gesetzlichen Rentenversicherung Bedeutung hat, steigt ab dem 01.01.2023 auf 3.395 Euro pro Monat (2022: 3.290 Euro/Monat). Die Bezugsgröße (Ost) steigt ab dem 01.01.2023 auf 3.290 Euro pro Monat (2022: 3.150 Euro/Monat).

Cornelia-Cristina Scupra

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3 Legal Tech: Neues Tool zum Fremdpersonaleinsatz – Compliance Check

Der Einsatz von Freelancern und Beschäftigten von Drittunternehmen zählt in vielen Unternehmen zum Alltag. Auf Grund unklarer gesetzlicher Vorgaben ist dieser Fremdpersonaleinsatz jedoch risikobehaftet. Die Beauftragung eines Scheinselbständigen sollte genauso ausgeschlossen werden, wie eine illegale Arbeitnehmerüberlassung. Mit unserem neuen Legal Tech Tool  Fremdpersonal Compliance Check - Oppenhoff können Sie anhand definierter Fragen eine Risikoabschätzung vornehmen und finden zudem hilfreiche Erläuterungen. Kontaktieren Sie uns gerne hierzu.

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