16.12.2021 Newsletter
Fokus Arbeitsrecht – 4. Quartal 2021
Am 07.12.2021 haben die Koalitionspartner den Koalitionsvertrag unterzeichnet. Der neue Koalitionsvertrag bietet einen ersten Einblick in die arbeitsrechtlichen Pläne der neuen Bundesregierung. Das Programm der Ampel-Koalition für die 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist umfangreich und lässt erhebliche Veränderungen im deutschen Arbeitsrecht erwarten. Die Erfahrung mit den Koalitionsvereinbarungen früherer Legislaturperioden lehrt indes, dass keineswegs alle angekündigten Vorhaben auch tatsächlich Gesetz werden. Die konkrete Umsetzung bleibt also abzuwarten, zumal der Gesetzgeber in der fortdauernden Pandemie-Situation mit dem Krisenmanagement beschäftigt sein dürfte. Eine Übersicht über die wichtigsten arbeitsrechtlichen Aussagen des Koalitionsvertrages finden Sie in diesem neuen Fokus Arbeitsrecht, ebenso die bereits konkret zum 01.01.2022 und 01.04.2022 in Kraft tretenden Änderungen des BetrAVG und des SGB IV sowie den gewohnten Überblick über die bedeutsamsten arbeitsgerichtlichen Entscheidungen. Mit diesem vierten Fokus Arbeitsrecht beschließen wir das Jahr 2021.
Wir wünschen Ihnen und Ihren Familien erholsame und besinnliche Feiertage und alles Gute für das neue Jahr 2022. Bleiben Sie gesund!
1.1 Anteilige Kürzung des Urlaubsanspruchs bei Kurzarbeit Null
1.2 Beschäftigungsanspruch nach unternehmerischer Entscheidung
1.3 Verwirkung des Widerspruchsrechtes bei Betriebsübergang
1.4 Massenentlassungsanzeige – § 17 KSchG gilt auch bei krankheitsbedingten Entlassungen
1.5 Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte nach dem TVöD-K
1.6 Betriebsratswahlen: Wahlanfechtung und Wahlabbruch – Lasset die Spiele beginnen
1.7 Versetzung innerhalb der Stadtgrenzen – Wann besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates?
1.8 Home-Office und Mitbestimmung
2.2 Praktische Umsetzungsschwierigkeiten – Der verpflichtende Arbeitgeberzuschuss zur Entgeltumwandlung bei betrieblicher Altersversorge
2.3 Reform des Statusfeststellungsverfahrens durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
1. Neue Rechtsprechung
1.1 Anteilige Kürzung des Urlaubsanspruchs bei Kurzarbeit Null
Ist Kurzarbeit Null wirksam eingeführt worden, kann der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch von Mitarbeitern unterjährig anteilig kürzen. Dies hat das BAG in einem Urteil am 30.11.2021 – 9 AZR 225/21 bestätigt. Dies ist für viele Arbeitgeber eine für Rechtssicherheit sorgende Entscheidung – zu einem Zeitpunkt der Pandemie, zu dem das Bundesarbeitsministerium am 24.11.2021 die Herabsetzung der Voraussetzungen für den Zugang zum Kurzarbeitergeld erneut bis zum 31.03.2022 verlängert hat und wieder zunehmend in Kurzarbeit gearbeitet wird.
Die beklagte Arbeitgeberin hatte aufgrund eines Arbeitsausfalls durch die Corona-Pandemie mittels einzelvertraglicher Vereinbarung mit der Arbeitnehmerin Kurzarbeit Null eingeführt. Aufgrund des kurzarbeitsbedingten Arbeitsausfalls nahm die Arbeitgeberin eine Neuberechnung des Urlaubsanspruchs vor. Hiergegen wendet sich die Arbeitnehmerin mit ihrer Klage.
Mit Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 225/21, das bislang nur als Pressemitteilung vorliegt, hat das BAG sich den Vorinstanzen angeschlossen. Es bestätigt, dass ein Arbeitgeber wegen konjunktureller Kurzarbeit Null den jährlichen Urlaubsanspruch anteilig kürzen kann. Der kurzarbeitsbedingte Arbeitsausfall ganzer Arbeitstage rechtfertige eine Neuberechnung des Urlaubsanspruches. In einer Parallelentscheidung stellte das BAG dies ebenso für Kurzarbeit Null fest, die aufgrund einer Betriebsvereinbarung wirksam eingeführt worden ist (Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 234/21).
Mit der Entscheidung hat das BAG die für Arbeitgeber bislang fehlende Rechtssicherheit geschaffen. Es folgt damit konsequent seiner Rechtsprechung aus 2019, mit der die Erfurter Richter bereits festgestellt hatten, dass bei einem unterjährigen Wechsel der Anzahl der Arbeitstage in der Kalenderwoche aufgrund einer Teilzeitbeschäftigung der Urlaubsanspruch unter Berücksichtigung der einzelnen Zeiträume der Beschäftigung und der auf sie entfallenden Wochentage mit Arbeitspflicht umzurechnen ist. Demzufolge ist das Urteil des BAG wenig überraschend: Zwar setzt die Entstehung des Urlaubsanspruchs ausschließlich ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraus; der Umfang des Urlaubsanspruches richtet sich allerdings nach § 3 Abs.1 BurlG. Er richtet sich damit nach der Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage, sodass letztlich wie bei einer Teilzeittätigkeit der Urlaubsanspruch auch bei Kurzarbeit Null anteilig gekürzt werden kann. Das Urteil des BAG steht insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH. Dieser hat bereits 2018 geurteilt, dass ein Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach der Arbeitszeitrichtlinie nur für Zeiträume habe, in denen er auch Arbeitsleistungen erbracht hat.
Ob eine Kürzung des Urlaubsanspruchs ebenso vorgenommen werden kann, wenn Kurzarbeit nicht in Form der Kurzarbeit Null ausgeübt wurde, bleibt mit dem Urteil des BAG unbeantwortet. Das ArbG Osnabrück hat dies mit Urteil vom 08.06.2021 - 3 Ca 108/21 mangels vergleichbarer Rechtslage zum Teilzeitrecht abgelehnt. Eine Berufung ist anhängig. Nach aktuellem Stand sollte eine Kürzung des Urlaubsanspruchs daher nur erfolgen, wenn es sich um wirksam eingeführte Kurzarbeit Null handelt. Nachdem das Bundesarbeitsministerium am 24.11.2021 den erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld erneut bis zum 31.03.2022 verlängert hat, dürfte die Bedeutung des Urteils für zahlreiche Unternehmen und ihre Belegschaft weiterhin groß sein.
Alexandra Groth
1.2 Beschäftigungsanspruch nach unternehmerischer Entscheidung
Ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis gekündigt wurde, hat im Fall einer erfolgreichen Kündigungsschutzklage keinen Anspruch gegen den Arbeitgeber, wonach dieser seine Organisationsentscheidung rückgängig machen muss, die zum Wegfall des bisherigen Arbeitsplatzes geführt hat (BAG vom 15.06.2021 – 9 AZR 217/20).
Die beklagte Arbeitgeberin kündigte der als Assistenz der Geschäftsführung tätigen Klägerin betriebsbedingt, nachdem sie deren Aufgaben organisatorisch umverteilt hatte und der Arbeitsplatz in Folge dessen weggefallen war. Während und nach Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens setzte die hierin unterlegene Beklagte die Klägerin als Verkaufssachbearbeiterin ein. Anschließend machte die Klägerin mit einer zweiten Klage geltend, wieder an ihrem bisherigen Arbeitsplatz mit den ursprünglichen Aufgaben als Assistenz der Geschäftsführung beschäftigt zu werden.
Die Klägerin hatte mit ihrer Revision auch vor dem BAG keinen Erfolg. Zwar steht der Klägerin grundsätzlich ein Beschäftigungsanspruch auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz aus §§ 611a, 613 BGB i. V. m. § 242 BGB zu. Eine Beschäftigungsgarantie folgt hieraus jedoch nicht. So kann der Anspruch ausgeschlossen sein, wenn der Arbeitgeber auf Basis einer rechtmäßigen unternehmerischen Entscheidung eine Umorganisation vornimmt, infolge derer die geltend gemachte Beschäftigung nicht mehr möglich ist. Vom Arbeitgeber kann weder verlangt werden, auf die beschlossene Organisationsmaßnahme zu verzichten, wenn diese rechtlich nicht zu beanstanden ist, noch kann er gezwungen werden, seine Organisationsentscheidung mit dem Ziel zu „modifizieren“, eine Beschäftigungsmöglichkeit zu erhalten. Eine solche unternehmerische Entscheidung ist gerichtlich nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur daraufhin, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist.
Begrüßenswert ist, dass das BAG die Organisationsfreiheit des Arbeitgebers stärkt. Zudem stellt es klar, dass es im Arbeitsverhältnis keine Beschäftigungsgarantie gibt. Ein Arbeitgeber verhält sich also weder pflichtwidrig noch macht er sich schadensersatzpflichtig, wenn er an seiner unternehmerischen Entscheidung festhält, deren Umsetzung zur Unmöglichkeit einer vertragsgemäßen Beschäftigung des Arbeitnehmers führt. Ferner kann der Arbeitnehmer nicht verlangen, dass der Arbeitgeber seine unternehmerische Entscheidung rückgängig machen muss.
Gleichwohl darf die Entscheidung des BAG nicht zu Trugschlüssen führen. Denn wird der Kündigungsschutzprozess nach Ausspruch einer – betriebsbedingten – Kündigung verloren, so begegnet die vertragsgemäße (Weiter-) Beschäftigung eines Arbeitnehmers regelmäßig erhöhten Schwierigkeiten. Denn soweit die grundsätzlich erforderliche Interessensabwägung für den Arbeitnehmer streitet oder er gar bestehende – alternative – Beschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb nachweisen kann, wird sein Beschäftigungsinteresse das gegenläufige Interesse des Arbeitgebers regelmäßig überwiegen. Dies gilt auch dann, wenn der bisherige Arbeitsplatz aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung weggefallen ist. Für Arbeitgeber empfiehlt sich daher dringend, vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung alternative Beschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb auszuschließen.
Johannes Kaesbach
1.3 Verwirkung des Widerspruchsrechtes bei Betriebsübergang
Seit jeher ist umstritten, wie lange Arbeitnehmer, die von einem Betriebsübergang betroffen sind und ein fehlerhaftes Unterrichtungsschreiben erhalten haben, dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber widersprechen können. Das BAG macht nun Hoffnung, dass die Anforderungen an ein wirksames Unterrichtungsschreiben künftig etwas sinken und diese Fälle nachträglicher Widersprüche seltener werden könnten.
Das Urteil betraf einen Betriebsteilübergang aus dem Jahr 2011. Zwar hatten die betroffenen Arbeitnehmer damals ein Unterrichtungsschreiben erhalten, dieses enthielt jedoch keine Informationen über das Haftungssystem, das Kündigungsverbot und die Sperrfrist gem. § 613a BGB. Aus diesem Grunde war es rechtsunwirksam. Mangels ordnungsgemäßer Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB war die Monatsfrist für die Erklärung des Widerspruches folglich noch nicht angelaufen. Der Kläger widersprach im Juni 2019 – also mehr als acht Jahre nach dem Betriebsübergang – dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses.
Das BAG hat mit Urteil vom 22.07.2021 – 2 AZR 6/21 entschieden, dass der Widerspruch des Klägers unwirksam war, weil er verwirkt war. Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB), mit der die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen wird. Bereits nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG kann sich der Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses bei einer zunächst widerspruchslosen Weiterarbeit beim Erwerber über einen Zeitraum von sieben Jahren allein aufgrund des Zeitablaufs als mit Treu und Glauben unvereinbar erweisen. Insofern blieb das BAG bei seiner Rechtsprechungslinie. Jedenfalls nach sieben oder acht Jahren droht also kein Ungemach bei fehlerhaften Unterrichtungsschreiben.
Auffällig ist jedoch eine Bemerkung des BAG, die an sich für die Entscheidung des Rechtsstreites nicht erforderlich war, allerdings auf eine gewisse Rechtsprechungsänderung hindeutet: Das BAG merkt an, dass bei Fehlern im Unterrichtungsschreiben, die regelmäßig für den Willensbildungsprozess der Arbeitnehmer ohne Belang seien, eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich sein könnte. Dies deutet darauf hin, dass das BAG künftig bei derartigen Fehlern im Unterrichtungsschreiben, „ein Auge zudrücken“ könnte. Bislang legte die Rechtsprechung des BAG einen sehr strengen Maßstab an, wonach praktisch jeder Fehler im Unterrichtungsschreiben zur Unwirksamkeit des Unterrichtungsschreibens geführt hat, beispielsweise auch die falsche Angabe des Vornamens des Geschäftsführers.
Die Entscheidung verdeutlicht, dass der nun für das Betriebsübergangsrecht zuständige 2. Senat gewillt zu sein scheint, die Rechtsprechung zu den Anforderungen an das Unterrichtungsschreiben anzupassen. Bis zum Jahresbeginn war der 8. Senat mehrere Jahrzehnte lang zuständig für diese Rechtsfragen. Die hier besprochene Entscheidung hat ihm dazu allerdings noch keine Gelegenheit gegeben. Für die Praxis besteht allerdings die Aussicht, dass die „Haftungsfalle Unterrichtungsschreiben“ künftig etwas entschärft wird. Wie groß der Spielraum genau ist, den das BAG den Arbeitgebern hier überlässt, wird sich hoffentlich bald zeigen.
Dr. Alexander Willemsen
1.4 Massenentlassungsanzeige – § 17 KSchG gilt auch bei krankheitsbedingten Entlassungen
Die Frage nach der Erforderlichkeit eines Massenentlassungsverfahrens nach § 17 KSchG ist bei geplanten Restrukturierungen und damit einhergehenden Personalabbaumaßnahmen von wesentlicher Bedeutung. Neben den zahlreichen verfahrensrechtlichen Herausforderungen, die mit einer Massenentlassungsanzeige verbunden sind, hat das LAG Düsseldorf mit Urteil vom 15.10.2021 – 7 Sa 405/21 nun auch den Anwendungsbereich des Massenentlassungsverfahrens in den Fokus gestellt. Danach kann die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige auch aufgrund von personen- und verhaltensbedingten Kündigungen erforderlich sein.
Im vorliegenden Verfahren stritten die Parteien über die Wirksamkeit zweier krankheitsbedingter ordentlicher Kündigungen der Beklagten vom 27.11.2020 und vom 22.01.2021. Hintergrund der Kündigungen waren mehrere Kurzzeiterkrankungen des Klägers in den Jahren 2018 bis 2020. Die Beklagte, die in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt, sprach im Zeitraum vom 25.11.2020 bis zum 22.12.2020 gegenüber insgesamt 34 Arbeitnehmern Kündigungen aus krankheitsbedingten Gründen aus. Eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG erstattete die Beklagte nicht.
Das LAG Düsseldorf hielt die beiden streitgegenständlichen Kündigungen für unwirksam. Die erste Kündigung vom 27.11.2020 sei bereits deshalb rechtsunwirksam, da es an der erforderlichen Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit fehle. Eine solche sei nach dem Wortlaut, der Systematik sowie dem Sinn und Zweck von § 17 KSchG auch in Fällen von krankheitsbedingten Massenentlassungen zu stellen.
Nach der der deutschen Regelung des § 17 KSchG zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG ("Massenentlassungs-RL") sind zwar nur betriebsbedingte Entlassungen von den Vorgaben des Massenentlassungsverfahrens erfasst. Allerdings ist es nach Art. 5 der Massenentlassungs-RL für Mitgliedsstaaten auch möglich, für Arbeitnehmer günstigere Regelungen zu erlassen. Eine Differenzierung hinsichtlich der Gründe der Entlassung findet sich in § 17 KSchG nicht. Vielmehr habe der Gesetzgeber die ausdrückliche Anregung im Gesetzgebungsverfahren, personen- oder verhaltensbedingte Entlassungen von der Anzeigepflicht auszunehmen, nicht aufgegriffen. Deshalb sind nach Ansicht des LAG Düsseldorf auch personen- und verhaltensbedingte Kündigungen von § 17 KSchG erfasst.
Die Notwendigkeit einer Massenentlassungsanzeige allein aufgrund von personen- oder verhaltensbedingten Entlassungen – wie im vorliegenden Verfahren - dürfte in der Praxis eher selten sein. Allerdings ist das Urteil auch für Personalabbaumaßnahmen und damit zusammenhängende betriebsbedingte Kündigungen von Relevanz. Personen- oder Verhaltensbedingte Kündigungen erfolgen häufig eher kurzfristig. Liegt die Anzahl der geplanten betriebsbedingten Kündigungen knapp unter den Schwellenwerten des § 17 Abs.1 KSchG, besteht das Risiko, dass eine Anzeigepflicht durch Hinzutreten vereinzelter ungeplanter personen- oder verhaltensbedingter Kündigungen, die innerhalb von 30 Tagen mit den betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden, ausgelöst wird. Vor dem Hintergrund, dass bei einer Überschreitung der Schwellenwerte und fehlender Massenentlassungsanzeige alle Kündigungen unwirksam wären, kann es daher in Einzelfällen sinnvoll sein, vorsorglich eine Massenentlassungsanzeige zu stellen sowie ein Konsultationsverfahren durchzuführen oder aber die eine Massenentlassungsanzeige auslösende Kündigung zeitlich etwas nach hinten zu schieben.
Jennifer Bold
1.5 Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte nach dem TVöD-K
Teilzeitbeschäftigten im öffentlichen Dienst steht ein Überstundenzuschlag erst ab Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten zu, so das BAG im Urteil vom 15.10.2021 – 6 AZR 253/19. Eine Diskriminierung von Teilzeitkräften liegt darin nicht.
Die Klägerin ist bei der Beklagten, einer Klinikbetreiberin, als Pflegekraft in Wechselschicht mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 32 Stunden beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Regelungen zur Vergütung von Überstunden und Mehrarbeit des TVöD-K Anwendung. In der ersten Jahreshälfte 2017 leistete die Klägerin über ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus zusätzliche Stunden, überschritt jedoch dabei nie die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten. Die Beklagte vergütete diese Arbeitsstunden, zahlte jedoch mangels Erreichens der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten keinen Überstundenzuschlag.
Das BAG erkennt darin keine Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten. Es stellt zunächst unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung (Urteile vom 25.04.2013 – 6 AZR 800/11 und 6 AZR 161/16) fest, dass die maßgebliche Sonderregelung in § 7 Abs. 8 Buchst. c TVöD-K zur Entstehung von Überstunden bei Beschäftigten, die Wechselschicht- oder Schichtarbeiten leisten, sowohl für Voll- als auch für Teilzeitbeschäftigte gegen das Gebot der Normklarheit verstößt und deshalb unwirksam ist. Damit sei für die Klägerin allein die für Teilzeitbeschäftigte geltende Regelung des § 7 Abs. 6 TVÖD-K (Mehrarbeit) maßgeblich, die keine Zahlung von Überstundenzuschlägen vorsieht. Eine Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten war im konkreten Fall wirksam, da der TVöD-K für Mehrarbeit und Überstunden völlig unterschiedliche Regelungssysteme geschaffen habe.
Im Ergebnis hält das BAG damit nicht mehr an seiner älteren Rechtsprechung fest, wonach Teilzeitbeschäftigte diskriminiert werden, wenn Überstunden erst ab dem Erreichen der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten anfallen (Urteil vom 23.03.2017 – 6 AZR 161/16). Arbeitszeit, die hinter der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten zurückbleibt, aber die Arbeitszeit eines Teilzeitbeschäftigten überschreitet, stellt nach der jüngst ergangenen Entscheidung des BAG – jedenfalls im Kontext der Anwendbarkeit des TVöD-K - lediglich Mehrarbeit dar. Diese als Mehrarbeit definierte Arbeitszeit ist nicht mit Überstundenzuschlägen zu vergüten. Teilzeitbeschäftigten ist somit auch im Falle von Schicht- und Wechselschichtarbeit nur noch im Rahmen von § 7 Abs. 7 TVöD-K ein Überstundenzuschlag zu zahlen.
Durch seine Rechtsprechungsänderung stärkt das BAG nicht nur die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien, da eine unterschiedliche Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigen in Bezug auf die Überstundenabgeltung in einem Tarifvertrag nun als nichtdiskriminierend gilt. Auch außerhalb des Anwendungsbereiches des TVöD-K dürften die aufgestellten Grundsätze praxisrelevant sein, wenn etwa auf betrieblicher Ebene durch Betriebsvereinbarungen oder im Rahmen von Arbeitsverträgen für Mehrarbeit und Überstunden unterschiedliche Regelungssysteme geschaffen wurden und Zuschläge nur an das Überschreiten der Vollarbeitszeit geknüpft werden. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot von Teilzeitbeschäftigten gemäß § 4 TzBfG muss dann wohl nicht befürchtet werden.
Cornelia-Cristina Scupra
1.6 Betriebsratswahlen: Wahlanfechtung und Wahlabbruch – Lasset die Spiele beginnen
Nicht nur die Änderung durch das Betriebsrätemodernisierungsgesetz, sondern vor allem auch zwei aktuelle gerichtliche Entscheidungen geben Anlass dazu, einen Blick auf die im Jahr 2022 anstehenden Betriebsratswahlen zu werfen.
Die Rechtsprechung hat in den letzten Jahren die Konturen für ein rechtliches Vorgehen gegen eine Betriebsratswahl ausprägt. Mit dem Inkrafttreten des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes zum 18.06.2021 hat der Gesetzgeber den für die Wahlanfechtung maßgeblichen § 19 BetrVG angepasst. Die ohnehin restriktive Regelung wurde um den § 19 Abs. 3 BetrVG ergänzt, wonach eine Anfechtung der Betriebsratswahl wegen der Unrichtigkeit einer Wählerliste nur dann erfolgen kann, wenn zuvor die Möglichkeit des Einspruchs gegen die Wählerliste - erfolglos - genutzt wurde.
Mit Beschluss vom 30.06.2021 hat das BAG (7 ABR 24/20) die Voraussetzungen der Anfechtung einer Wahl in Abgrenzung zur Feststellung ihrer Nichtigkeit nochmals aufgezeigt. Der Arbeitgeber wollte vordringlich die Nichtigkeit der Wahl festgestellt wissen, da einerseits der Betriebsbegriff verkannt worden sei und andererseits der Betriebsrat keine Wählerliste, sondern eine „Fantasieliste“ auf Basis einer bloßen Telefonliste erstellt habe. Nur hilfsweise focht der Arbeitgeber die Wahl an. Das BAG stellte zunächst klar, dass eine Nichtigkeit, die die Unwirksamkeit der Wahl von Anfang an zur Folge hätte, nur in besonderen Fällen gegeben ist. Es muss sich um einen offensichtlichen und besonders groben Verstoß gegen Wahlvorschriften handeln, so dass ein Vertrauensschutz in die Gültigkeit der Wahl zu versagen ist. Die Betriebsratswahl muss „den Stempel der Nichtigkeit auf der Stirn tragen“. Dies lehnte das BAG hier – anders als die Vorinstanz (LAG Thüringen, Beschluss vom 24.06.2020 – 4 TaBV 12/19) – ab. Das BAG erachtete allerdings die Anfechtung als begründet, da gegen wesentliche Vorschriften des Wahlrechts verstoßen wurde. Mit dieser Konsequenz blieb der gewählte Betriebsrat bis zur rechtskräftigen Anfechtung im Amt.
Auch den Abbruch einer laufenden Betriebsratswahl kann ein Arbeitgeber gerichtlich beantragen, wenn Fehler bereits im Wahlverfahren erkennbar werden. Indes sind die Hürden für ein erfolgreiches Vorgehen hoch, wie das LAG Berlin-Brandenburg jüngst bestätigte (Beschluss vom 23.11.2021 - Az. 13 TaBVGa 1534/21). In einem einstweiligen Verfügungsverfahren wollte der Arbeitgeber, ein „tierischer“ Lieferdienst, den Abbruch der Betriebsratswahl erzwingen. Das Unternehmen hatte u. a. argumentiert, dass es formale Mängel bei der Einleitung des Wahlverfahrens gegeben habe. Das LAG Berlin-Brandenburg ist dieser Argumentation indes nicht gefolgt. Laut Pressemitteilung hielt das Gericht fest, dass eine Betriebsratswahl gerichtlich nur abgebrochen werden könne, wenn der Wahlvorstand bei Einleitung der Wahl offensichtlich nicht im Amt war oder die festzustellenden Mängel im Wahlverfahren zu einer nichtigen Wahl führen würden. Der Arbeitgeber wurde auf die Möglichkeit der Anfechtung der abgeschlossenen Wahl verwiesen.
Auch wenn die Gerichte zurückhalten sind, den Abbruch einer Wahl oder gar die Nichtigkeit der Wahl festzustellen, sollte die Arbeitgeberseite die Wahl aufmerksam verfolgen und auch notfalls gerichtlich hiergegen vorgehen. Fehlerhaft gewählte Arbeitnehmergremien können massive negative Auswirkungen auf die innerbetriebliche Organisation haben und zudem hohe Kosten verursachen. Unternehmen sollten die Betriebsratswahlen mit eigenen Checklisten beobachten und etwaige Fehler bei der Wahl unmittelbar angehen. Aber bitte keine Angst dabei. Allzu gerne wird von Arbeitnehmerseite der – bisher in der Praxis im Ergebnis oft – haltlose Vorwurf der Behinderung der Betriebsratswahl in den Raum gestellt.
Jörn Kuhn
1.7 Versetzung innerhalb der Stadtgrenzen – Wann besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates?
Was sich zwanglos für Metropolen wie London oder Paris erschließt, gilt auch für beschauliche Städte in Bayern: Verlängert sich durch die Zuweisung eines Arbeitsplatzes in einem anderen Stadtteil der Weg zur Arbeit erheblich, kann dies Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates auslösen. Überraschend ist allerdings, welche Veränderung das LAG Nürnberg bereits als erheblich bewertet.
Die beteiligte Arbeitgeberin unterhielt einen Servicebetrieb für das Klinikum Nürnberg. Dieses verteilt sich auf zwei Standorte auf Nürnberger Stadtgebiet, Nord und Süd. Die Arbeitgeberin teilte zwei Arbeitnehmer, die bislang am Standort Süd mit Kranken- und Warentransporten beschäftigt waren, für eine dreimonatige Tätigkeit am Standort Nord ein und einen vormals am Standort Nord Beschäftigten für den Standort Süd. Inhaltlich änderte sich an den Tätigkeiten der Arbeitnehmer nichts. Die Standorte liegen 12 Kilometer voneinander entfernt. Die Zustimmung des Betriebsrates holte die Arbeitgeberin nicht ein. Dagegen wandte sich der Betriebsrat und forderte die Aufhebung der Maßnahmen, da es sich um mitbestimmungspflichtige Versetzungen gemäß § 99 BetrVG gehandelt habe. Die Arbeitgeberin hielt die Entfernung zwischen den Standorten für unwesentlich, zumal beide innerhalb derselben politischen Gemeinde lägen.
Sowohl das ArbG Nürnberg als auch das LAG Nürnberg gaben dem Betriebsrat recht und verpflichteten die Arbeitgeberin zur Aufhebung der Versetzungen. Denn um solche handelte es sich nach Auffassung des LAG Nürnberg (Beschluss vom 10.05.2021 – 1 TaBV 3/21). Die Arbeitgeberin habe den Beschäftigten einen „anderen Arbeitsbereich“ i. S. v. § 95 Abs. 3 BetrVG zugewiesen. Zwar läge keine relevante Änderung der Aufgaben oder Verantwortlichkeiten vor. Auch Stellung und Platz der Arbeitnehmer innerhalb der betrieblichen Organisation ändere sich nicht. Aber allein die Entfernung von 12 Kilometern zwischen dem bisherigen und dem neuen Arbeitsort gebe der Tätigkeit ein anderes Gesamtgepräge. Dies sei kein „Bagatellfall“ mehr, da sich für die Beschäftigten erhebliche längere Anfahrtswege zwischen Wohnort und Einsatzort ergeben könnten. Die Lage innerhalb derselben politischen Gemeinde sei dabei unerheblich.
Diese Entscheidung zeigt einmal mehr, welchen Unwägbarkeiten die Arbeitgeberseite bei der Frage ausgesetzt ist, ob die Ausübung des arbeitgeberseitigen Weisungsrechtes Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates auslöst oder nicht. Im Jahr 2006 hatte das BAG entschieden, dass die Zuweisung eines anderen Arbeitsortes „um wenige Kilometer“ – seinerzeit waren es drei - innerhalb einer politischen Gemeinde keine mitbestimmungspflichtige Versetzung darstelle (BAG vom 27.06.2006 – 1 ABR 35/05). Da das LAG mit seiner Entscheidung möglicherweise von der BAG-Rechtsprechung abgewichen ist, hat es die Revision zum BAG zugelassen. Völlig unklar bleibt jedenfalls, ab welcher Entfernung zwischen altem und neuem Arbeitsort eine Versetzung der Zustimmung des Betriebsrates bedarf und ob die Stadtgrenzen überhaupt noch ein wesentlicher Aspekt sind. Für die Arbeitgeberseite ist dies ein Dilemma: Leitet sie das Zustimmungsverfahren nach § 99 BetrVG ein, setzt sie sich dem Risiko aus, dass der Betriebsrat diese verweigert und mit dem Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG eine gerichtliche Auseinandersetzung initiiert werden muss. Lässt sie § 99 BetrVG unberücksichtigt, droht ein vom Betriebsrat betriebenes Zwangsgeldverfahrens nach § 101 BetrVG zwecks Aufhebung der Maßnahme.
Kathrin Vossen
1.8 Home-Office und Mitbestimmung
Wenn sich die Zuordnung eines Arbeitnehmers im Home-Office zu einem Arbeitsort ändert, hat der Betriebsrat nach Auffassung des LAG Hessen gleichwohl ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG – auch wenn sich weder der Inhalt der Tätigkeit, der Arbeitsort im Home-Office noch der Fachvorgesetzte ändern. Die durch die Pandemie geförderten Arbeitsformen Home-Office, Co-Working, Matrixstrukturen oder agile Organisationen werden daher vom Betriebsrat wohl künftig kritischer geprüft werden.
Gemäß § 99 Abs. 1 BetrVG muss der Arbeitgeber den Betriebsrat vor jeder Versetzung unterrichten und dessen Zustimmung einholen. Unterlässt der Arbeitgeber dies, so ist die Versetzung individualrechtlich unwirksam, was wiederum dem Arbeitnehmer erlaubt, seine Arbeit zu den geänderten Bedingungen zu verweigern.
In dem vom LAG Hessen am 14.01.2020 – 4 TaBV 5/19 entschiedenen Fall hat der Arbeitgeber zunächst drei Betriebsstandorte zu einer neuen Betriebsstätte zusammengelegt. Im Zuge dessen wechselten 34 Arbeitnehmer ins Home-Office. Im Rahmen einer nachfolgenden weiteren Standortverlegung unterrichtete die Arbeitgeberin den Betriebsrat über die Versetzung in die neue Betriebsstätte unter Zuweisung eines dauerhaften Home-Office. Der Versetzung widersprach der Betriebsrat. Im darauffolgenden Zustimmungsersetzungsverfahren beantragte die Arbeitgeberin u. a. festzustellen, dass die Angliederung an einen neuen Arbeitsort nicht mitbestimmungspflichtig im Sinne des § 95 Abs. 3 BetrVG ist.
Während das Arbeitsgericht noch die Auffassung vertrat, dass keine mitbestimmungspflichtige Versetzung vorliegt, hatte die Beschwerde des Betriebsrats Erfolg. Das LAG Hessen stellte fest, dass die dauerhafte Neu-Zuordnung zu einem anderen Dienstort die persönliche Stellung der Arbeitnehmer innerhalb der betrieblichen Organisation ändere. Dass sich weder die Aufgaben noch der Vorgesetze ändern und der Arbeitnehmer – wie zuvor auch – im Home-Office tätig ist, sei nicht maßgeblich. Auch durch die Zuweisung eines anderen Arbeitsortes ändere sich der Arbeitsbereich, da der Arbeitnehmer fachlich einem anderen Teil der Betriebsorganisation zugeordnet würde. Dabei betonte das LAG Hessen, dass die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs voraussetzt, dass sich die Tätigkeit eines Arbeitnehmers für einen mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Beobachter als eine andere darstellt.
Arbeitgeber sollten daher zukünftig nicht nur beim Wechsel „in″ oder „aus″ dem Home-Office den Betriebsrat gemäß § 99 BetrVG anhören, sondern vorsorglich auch bei einer "Versetzung auf dem Papier" ohne räumliche Veränderung. Bei der bloßen Zuordnung eines Home-Office Arbeitsplatzes zu einer anderen als der bisherigen Betriebsstätte bei Beibehaltung der Tätigkeit, dem Arbeitsort (Home-Office) und dem Vorgesetzten würde ein „vertrauter Beobachter″ nach unserer Sicht eher dazu tendieren, eine Veränderung des Arbeitsbereichs und damit eine betriebsverfassungsrechtliche Versetzung abzulehnen. Dennoch billigt die sehr formale Betrachtungsweise des LAG Hessen dem Betriebsrat auch in diesem Fall ein Mitbestimmungsrecht zu.
Das Erfordernis den Betriebsrat zu beteiligen besteht außerdem nicht nur bei einer veränderten Zuordnung eines Arbeitnehmers im Home-Office im Einzelfall. Vielmehr ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 99 Abs. 1 BetrVG auch bei der Umsetzung von Betriebsänderungen nach § 111 BetrVG zu beachten, z. B. wenn bei Restrukturierungen Arbeitnehmer aufgrund von geänderten Organisationsstrukturen unter Beibehaltung ihres Arbeitsortes einer anderen Betriebsstätte zugeordnet werden.
2. Rechtsentwicklungen
2.1 Koalitionsvertrag
Der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition wurde am 24.11.2021 veröffentlicht und am 07.12.2021 unterzeichnet. Seit dem 08.12.2021 ist die neue Bundesregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz im Amt. Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ verspricht die neue Regierung die Gestaltung einer modernen Arbeitswelt, die Sicherheit und Flexibilität in Einklang bringt. Hier sind die wichtigsten arbeitsrechtlichen Aussagen des Koalitionsvertrages.
- „Wir halten am Grundsatz des 8-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz fest. Im Rahmen einer im Jahre 2022 zu treffenden, befristeten Regelung mit Evaluationsklausel werden wir es ermöglichen, dass im Rahmen von Tarifverträgen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhaltenden Fristen ihre Arbeitszeit flexibler gestalten können.“ (S. 68 des Koalitionsvertrages)
- „Außerdem wollen wir eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen, auf Grund von Tarifverträgen, dies vorsehen (Experimentierräume). Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“ (S. 68)
- „Homeoffice grenzen wir als eine Möglichkeit der Mobilen Arbeit rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung.“ (S. 68)
- „Beschäftigte in geeigneten Tätigkeiten erhalten einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice. Arbeitgeber können dem Wunsch der Beschäftigten nur dann widersprechen, wenn betriebliche Belange entgegenstehen. Das heißt, dass eine Ablehnung nicht sachfremd oder willkürlich sein darf.“ (S. 69)
- „Um Kettenbefristungen zu vermeiden, begrenzen wir mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge beim selben Arbeitgeber auf sechs Jahre. Nur in eng begrenzten Ausnahmen ist ein Überschreiten dieser Höchstdauer möglich.“ (S. 70)
- „Werkverträge und Arbeitnehmerüberlassung sind notwendige Instrumente. Strukturelle und systematische Verstöße gegen Arbeitsrecht und Arbeitsschutz verhindern wir durch effektivere Rechtsdurchsetzung.“ (S. 71)
- „Die Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln. Betriebsräte sollen selbstbestimmt entscheiden, ob sie analog oder digital arbeiten. Im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Maßstäbe werden wir Online-Betriebsratswahlen in einem Pilotprojekt erproben. Wir schaffen ein zeitgemäßes Recht für Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe, das ihren analogen Rechten entspricht.“ (S. 71)
- „Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt).“ (S. 72)
- „Vollständig an das Integrationsamt übermittelte Anträge gelten nach sechs Wochen ohne Bescheid als genehmigt (Genehmigungsfiktion).“ (S. 79)
Kathrin Vossen
2.2 Praktische Umsetzungsschwierigkeiten – Der verpflichtende Arbeitgeberzuschuss zur Entgeltumwandlung bei betrieblicher Altersversorge
Ab dem 01.01.2022 sind Arbeitgeber verpflichtet, Entgeltumwandlungen ihrer Arbeitnehmer zur betrieblichen Altersvorsorge – unabhängig von dem Zeitpunkt des Abschlusses der Entgeltumwandlungsvereinbarungen – zu bezuschussen. Dies gilt, soweit der Arbeitgeber durch die Entgeltumwandlung Sozialversicherungsbeiträge einspart, § 1a Abs. 1a i. V. m. § 26a BetrAVG. Die Gewährung des Arbeitgeberzuschusses ist in der praktischen Umsetzung komplex.
Arbeitnehmer, die in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert sind, haben gemäß § 1a Abs. 1 S. 1 BetrAVG Anspruch auf betriebliche Altersversorgung mittels Entgeltumwandlung. Entschließt sich ein Arbeitnehmer hierzu, schließen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Durchführung eine Entgeltumwandlungsvereinbarung. Versicherungsrechtlich setzt der Arbeitgeber die Entgeltumwandlung häufig in Form einer Direktversicherung um. Der umgewandelte Teil des Arbeitsentgelts reduziert das Bruttoarbeitsentgelt des Arbeitnehmers und verringert zugleich die Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers. Nach der Sozialversicherungsentgeltverordnung handelt es sich bei umgewandeltem Arbeitsentgelt bis zu der Grenze des § 1a Abs. 1 BetrAVG nicht um sozialversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt, so dass aus diesem Grund für den Arbeitgeber keine Sozialversicherungsbeiträge anfallen.
Diese ersparten Sozialversicherungsbeiträge muss der Arbeitgeber – soweit sie anfallen – ab dem 01.01.2022 „als Arbeitgeberzuschuss an den Pensionsfonds, die Pensionskasse oder die Direktversicherung weiterleiten“.
An dieser Stelle beginnen die Umsetzungsschwierigkeiten. Eine Aufstockung des Versicherungsbeitrages, den der Arbeitgeber an das Versicherungsinstitut abgeführt, scheidet faktisch aus. Versicherungsinstitute lehnen eine solche Aufstockung ab, da dies ihre Verpflichtungen bei Versicherungsverträgen mit hohem Garantiezins erhöht. Ebenso wenig finden sich Versicherungsinstitute, die mit Arbeitgebern einen separaten Versicherungsvertrag lediglich über den verpflichtenden Arbeitgeberzuschuss abschließen, da dieser Betrag unterhalb der tariflichen Mindestbeträge der Versicherungsinstitute liegen dürfte.
Eine Umsetzung zum 01.01.2022 ist für Arbeitgeber gleichwohl möglich. Die praktikabelste Umsetzungsmöglichkeit bietet das Reduktionsmodell. Diese erfordert eine einvernehmliche Anpassung bestehender Entgeltumwandlungsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Hierzu vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Reduzierung des Entgeltumwandlungsbetrags. Der reduzierte Entgeltumwandlungsbetrag wird durch den Arbeitgeberzuschuss wiederum erhöht und an das Versicherungsinstitut abgeführt. Der Vorteil besteht darin, dass keine Änderung der Versicherungsverträge erforderlich ist, da der abgeführte Versicherungsbetrag im Ergebnis unverändert bleibt. Wird dieser Weg gewählt, müssen Arbeitgeber darauf achten, dass der Arbeitnehmer infolge der reduzierten Entgeltumwandlung wiederum ein insoweit erhöhtes Bruttoarbeitsentgelt erhält. All diese Faktoren sind bei der vertraglichen Anpassung bestehender Entgeltumwandlungsvereinbarung zu berücksichtigen und umzusetzen.
Arbeitgeber, die in der Vergangenheit freiwillig Zuschüsse bei Entgeltumwandlungen gewährt haben, ist eine Überprüfung der Entgeltumwandlungsvereinbarung auf etwaige Anrechnungsmöglichkeiten zu empfehlen.
Aufgrund der Komplexität der Änderungen sollten Arbeitgeber ihre Entgeltumwandlungsvereinbarungen überprüfen und diese kurzfristig anpassen.
Moritz Coché
2.3 Reform des Statusfeststellungsverfahrens durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Zum Ende der Legislaturperiode wurde – nahezu unbemerkt – noch eine Reform des sozialversicherungsrechtlichen Statusfeststellungsverfahrens (§ 7a SGB IV) verabschiedet. Diese wird zum 01.04.2022 in Kraft treten und verfolgt das Ziel, den Beteiligten zukünftig schneller und einfacher Gewissheit darüber zu verschaffen, ob eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit vorliegt. Die wesentlichen Neuerungen dieser Reform, die zunächst befristet bis zum 30.06.2027 gilt, haben wir für Sie nachfolgend zusammengefasst.
Erwerbsstatus
Das Statusfeststellungsverfahren ermöglicht zukünftig eine Entscheidung über den sog. Erwerbsstatus, d. h. die Feststellung, ob der Betroffene abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist. Die Feststellung der Versicherungspflicht ist davon nicht (mehr) umfasst.
Dreiecksverhältnisse
Zukünftig erstreckt sich die Prüfung in Dreiecksverhältnissen nicht nur auf das Vertragsverhältnis zwischen dem Auftragnehmer und dem Auftraggeber, sondern auch auf die Vereinbarung zwischen dem Auftraggeber und dem Endkunden. Insbesondere in Konstellationen, in denen ein Dienstleister (Auftraggeber) einen Spezialisten (Auftragnehmer) bei einem Dritten (Endkunden) im Rahmen eines Dienst- oder Werkvertrages einsetzt, wird somit zukünftig eine Statusfeststellung bezogen auf alle Beteiligten getroffen. Voraussetzung dafür ist, dass Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Auftragnehmer in die Arbeitsorganisation des Endkunden eingegliedert ist und dessen Weisungen unterliegt. An die Entscheidung der DRV sind auch die anderen Versicherungsträger gebunden. Zukünftig kann zudem auch der Endkunde ein solches Statusfeststellungsverfahren einleiten. In diesem Fall kann der Auftraggeber auch gegen seinen Willen in das Verfahren einbezogen werden.
Prognoseentscheidung
Nach der neuen Rechtslage kann ein Antrag – anders als bisher – bereits vor Aufnahme der Tätigkeit gestellt werden. Damit sollen rechtliche Zweifel an der Einordnung des Erwerbsstatus durch eine frühzeitige Entscheidung geklärt werden. Ändern sich die Vereinbarung oder die Umstände der Vertragsdurchführung innerhalb eines Monats nach Tätigkeitsaufnahme, besteht eine unverzügliche Berichtspflicht. Führt dies zu einer Abänderung der Prognoseentscheidung, wirkt diese zum Schutz der Beteiligten grundsätzlich nur für die Zukunft. Dies gilt nicht bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. Treten die Änderungen erst nach der Monatsfrist ein, gelten die allgemeinen Vorschriften.
Gruppenfeststellung
Ebenfalls neu ist das Instrumentarium der sog. Gruppenfeststellung, die bei einer Identität der Vertragsparteien z. B. bei einem Rahmenvertrag in Betracht kommt oder wenn die Aufträge auf Grundlage von im Wesentlichen einheitlichen Bedingungen umgesetzt werden. In diesem Fall äußert sich die DRV auf Antrag rein gutachterlich (ohne Bindungswirkung) zu dem Erwerbsstatus von Auftragnehmern in mehreren gleichen Auftragsverhältnissen.
Antrag auf Anhörung
Im Widerspruchsverfahren besteht zukünftig die Möglichkeit eines Antrags auf mündliche Anhörung.
Zwar enthält die Reform keine Rechtsklarheit zur materiell-rechtlichen Abgrenzung einer abhängigen Beschäftigung zu einer selbständigen Tätigkeit, was wünschenswert gewesen wäre. Dennoch beinhaltet die Reform verfahrensrechtlich einige für die Praxis hilfreiche Ansätze zur Schaffung von Rechts- und Planungssicherheit, insbesondere in Dreiecksverhältnissen.
Isabel Hexel
Anja Dombrowsky
PartnerinRechtsanwältin
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