Arbeitsrecht29.09.2022 Newsletter
Fokus Arbeitsrecht – 3. Quartal 2022
Arbeitgeber sahen sich im dritten Quartal 2022 gleich mehreren bahnbrechenden Entscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie neuer Gesetzgebung ausgesetzt, die spürbare Auswirkungen auf die Personalarbeit haben. Neben der zum 01.08.2022 in Kraft getretenen Reform des Nachweisgesetzes werden HR-Abteilungen nunmehr auch noch mit der BAG-Entscheidung vom 13.09.2022 zur Arbeitszeiterfassung sowie dem EuGH-Urteil vom 22.09.2022 zur Verjährung von (Rest-)Urlaubsansprüchen vor enorme Herausforderungen gestellt. Weitere, erst vor kurzem veröffentlichte BAG-Entscheidungen zwingen Unternehmen ferner im Bereich Compliance sowie im Zusammenhang mit dem Abschluss von Betriebsvereinbarungen zu Prozessanpassungen. All diese jüngsten Entwicklungen im Bereich der Rechtsprechung und Gesetzgebung stellen wir Ihnen in dieser Ausgabe unseres Fokus Arbeitsrecht gern vor.
1. Neue Rechtsprechung
1.1. Keine Verjährung von Urlaubsansprüchen?
1.2 Pflicht des Arbeitgebers zum Vorhalten eines Arbeitszeiterfassungssystems
1.4 Keine Berücksichtigung von RSUs bei der Karenzentschädigung
1.5 Beginn der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei Compliance-Ermittlungen
1.6 Haftungsrisiko für Geschäftsführer bei fehlender Compliance- Struktur
1.7 Coronabedingte Betriebsschließungen stellen kein vom Arbeitgeber zu tragendes Betriebsrisiko dar
1.8 Annahmeverzug des Arbeitgebers bei zu weitreichendem Hygienekonzept
1.9 Keine Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden bei Abschluss von Betriebsvereinbarungen
1.10 Grobe Pflichtverletzungen des Betriebsrats führen zu seiner Auflösung
1.11 Erforderlichkeit eines Laptops für mobile Betriebsratsarbeit
1.12 Grenzen der Mitbestimmung: Raucherpausen nur bedingt mitbestimmungspflichtig
2. Rechtsentwicklungen
Die neue SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV)
3. 14. Arbeitsrechtstag bei Oppenhoff am 10.11.2022
1. Neue Rechtsprechung
1.1 Keine Verjährung von Urlaubsansprüchen?
Nicht lange ist es her, dass die Schlussanträge des Generalanwalts aus März und Mai 2022 zum Verfall nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs für Furore sorgten (Schlussanträge vom 17.3.2022 – C-518/20; C-727/20 bzw. vom 5.5.2022 – C-120/21). Mit dem am 22.09.2022 ergangenen Urteil des EuGH steht aber nunmehr fest: Der Urlaubs(-abgeltungs-)anspruch verjährt nur dann, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweisobliegenheiten zur Inanspruchnahme des Urlaub nachgekommen ist.
Anderenfalls kann sich der Arbeitgeber auf die dreijährige Verjährungsfrist nicht berufen (EuGH vom 22.09.2022 – C-120/21, C-518/20, C-727/20). Das nationale Verjährungsrecht in Deutschlands ist insoweit nicht unionsrechtskonform. Es obliegt daher den Arbeitgebern, ihre Arbeitnehmer über einen drohenden Verfall von noch bestehenden (Rest-)Urlaubsansprüchen zu informieren und dies auch zu dokumentieren. Hier finden Sie weitere Einzelheiten zu dieser Entscheidung.
Cornelia-Cristina Scupra
1.2 Pflicht des Arbeitgebers zum Vorhalten eines Arbeitszeiterfassungssystems
Bei der Einführung von Zeiterfassungssystemen im Unternehmen steht dem Betriebsrat kein Initiativrecht zu. Das BAG bestätigte dies mit Beschluss vom 13.9.2022 - 1 ABR 22/21. Gleichzeitig sorgt das BAG mit besagtem Beschluss allerdings für einen Paukenschlag in der Diskussion zur Arbeitszeiterfassung.
Nach Auffassung der Erfurter Richter besteht nämlich schon heute bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG eine Verpflichtung der Arbeitgeber, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die Arbeitszeit der Beschäftigten erfasst werden kann. Damit dürfte eine Vielzahl der heute praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle hinfällig werden. Was konkret darunter zu verstehen ist, bleibt allerdings nach der Pressemitteilung des BAG derzeit noch offen. Umstritten ist daher aktuell, ob ein solches System elektronisch vorzuhalten ist, ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung wirksam auf die Arbeitnehmer delegiert werden kann und welche Folgen bei einem Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht drohen. Es bleibt abzuwarten, ob die Entscheidungsgründe hierzu noch nähere Informationen liefern werden. Hier finden Sie weitere Einzelheiten zu dem BAG-Beschluss sowie eine Checkliste mit ersten Praxishinweisen.
Alexandra Groth, Jennifer Bold
1.3. Verfall des Anspruchs auf Zusatzurlaub von schwerbehinderten Arbeitnehmern durch Wahrnehmung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers
Schwerbehinderten Arbeitnehmern steht grundsätzlich ein Anspruch auf Zusatzurlaub von fünf Tagen im Kalenderjahr zu. Das gibt das Gesetz ausdrücklich vor. Der Anspruch auf Zusatzurlaub kann aber grundsätzlich nur dann gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahrs oder eines zulässigen Übertragungszeitraums erlöschen, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten rechtzeitig erfüllt hat.
Die Parteien streiten über Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus den Jahren 2017 und 2018. Der Kläger hatte im Jahr 2017 einen Anerkennungsantrag als Schwerbehinderter gestellt, der im November 2017 abgelehnt wurde. Hierüber informierte der Kläger die beklagte Arbeitgeberin. Als der Kläger im März 2019 die Gewährung des gesetzlichen Zusatzurlaubs für die Jahre 2017 und 2018 von der Beklagten verlangte, erfuhr die Beklagte, dass der Kläger gegen den ablehnenden Bescheid das Widerspruchs- und Klageverfahren erfolgreich angestrebt hatte. Der Kläger wurde rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragsstellung als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt.
Das BAG (Urteil vom 26.04.2022 – 9 AZR 367/21)erkannte lediglich den Zusatzurlaub für 2018 an. Nach der Auffassung der Erfurter Richter gelten für den Verfall von Zusatzurlaub grundsätzlich dieselben Voraussetzungen wie für den Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs. Voraussetzung sei das objektive Vorliegen einer Schwerbehinderung. Habe der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung und sei diese auch nicht offenkundig, verfalle der Zusatzurlaub gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, auch wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachkomme. Im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens über eine Schwerbehinderung hänge die Befristung und der Verfall des Zusatzurlaubs gleichermaßen vom Kenntnisstand des Arbeitgebers ab. Habe der Arbeitnehmer den Arbeitgeber unverzüglich über die ablehnende Entscheidung der zuständigen Behörde sowie über die (beabsichtigte) Einlegung eines Rechtsbehelfs unterrichtet, setze die Befristung des Urlaubsanspruchs weiterhin die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten voraus. Habe er ihn jedoch wie in diesem Fall nur über die ablehnende Entscheidung, nicht aber über den eingelegten Rechtbehelf unterrichtet, verfalle der Zusatzurlaubsanspruch auch ohne Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers mit Ausnahme des Urlaubs, über den der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bis zur Ablehnung der Behörde hätte belehrt haben müssen.
Das BAG setzt seine bisherige Rechtsprechung zu den Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers konsequent fort. Lohnenswert wäre an dieser Stelle gleichwohl nochmal ein Blick in die Arbeitsverträge: diese sollten im Rahmen der Urlaubsklausel eine strikte Unterscheidung zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und vertraglichem Mehrurlaub vorsehen, damit im Zweifelsfall zumindest der vertragliche Mehrurlaub einem Verfall unterliegt.
Cornelia-Cristina Scupra
1.4 Keine Berücksichtigung von RSUs bei der Karenzentschädigung
In Spitzenpositionen sind langfristige Vergütungen in Form von Aktienoptionen oder vergleichbaren Rechten nicht unüblich und stellen oft einen erheblichen Anteil an der Gesamtvergütung dar. Gewährt werden diese Leistungen allerdings oft direkt von der Konzernspitze und nicht der Arbeitgebergesellschaft. Bislang war unklar, ob solche Leistungen Berücksichtigung bei der Bemessung einer Karenzentschädigung im Rahmen eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbotes finden.
Das BAG hatte nun einen Fall zu entscheiden, in dem der Arbeitgeber sich weigerte, Leistungen aus einem sog. „RSU-Programm“ der Obergesellschaft bei der Berechnung der Karenzentschädigung im Rahmen eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbotes zu berücksichtigen. Daraufhin erhob der Kläger Klage auf Zahlung von zusätzlichen EUR 80.053,65 brutto.
Das BAG hat klargestellt, dass zusätzlich gewährte Aktien(options)-Programme einer Obergesellschaft als Leistungen Dritter nicht bei der Berechnung einer Karenzentschädigung berücksichtigt werden können, da sie nicht auf dem Austauschcharakter des Arbeitsvertrags beruhen (Urteil vom 25.08.2022 – 8 AZR 453/21). Nach Ansicht des BAG handele es sich bei den von der Obergesellschaft gewährten RSUs nicht um „vertragsmäßige Leistungen“ im Sinne des § 74 Abs. 2 HGB. Die Gewährung der RSUs durch die Obergesellschaft könnten nur dann als „vertragsmäßige Leistungen“ zu qualifizieren sein, wenn die Beklagte im Hinblick auf die Gewährung dieser RSUs ausdrücklich oder konkludent eine Mitverpflichtung übernommen hätte. Eine solche Mitverpflichtung wurde unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls jedoch abgelehnt.
Mit dem Urteil hat das BAG hinsichtlich aller Leistungen Dritter bei der Karenzentschädigungsberechnung für Rechtssicherheit gesorgt. Für Unternehmen und Konzerne empfiehlt es sich, Aktienoptionen für die Arbeitnehmer zukünftig durch die Obergesellschaft zu gewähren und die Mitverpflichtung der Tochtergesellschaften auszuschließen, um eine spätere Berücksichtigung bei einer möglichen Karenzentschädigung zu vermeiden.
Dr. Alexander Willemsen
1.5 Beginn der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei Compliance-Ermittlungen
Führt ein Arbeitgeber Compliance-Ermittlungen durch, beginnt die Frist zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung regelmäßig erst, wenn eine kündigungsberechtigte Person im Unternehmen Kenntnis von den kündigungsrelevanten Tatsachen erhält (BAG vom 05.05.2022 – 2 AZR 483/21). Vereitelt der Arbeitgeber den Informationsfluss allerdings zielgerichtet, handelt er treuwidrig und kann sich nicht mehr auf die Wahrung der Zweiwochenfrist berufen.
Der Kläger war bei der Beklagten, ein Unternehmen, das unter anderem vertrauliche Aufträge für die Bundeswehr bearbeitet, als Vertriebsleiter tätig. Im Juli 2018 erhielt die Beklagte den Hinweis, dass vertrauliche Dokumente der Bundeswehr in ihrem Unternehmen zirkuliert würden. Daraufhin beauftragte sie ein externes Compliance-Team zur Sachverhaltsaufklärung. Dieses unterbrach die Ermittlungen im Juni 2019 mit einem Zwischenbericht, um die Geschäftsleitung zu informieren. Der Zwischenbericht wurde der Beklagten am 16.09.2019 übermittelt, woraufhin diese dem Kläger am 27.09.2019 - und damit elf Tage nach Übermittlung des Zwischenberichts - die außerordentliche Kündigung aussprach. Die internen Untersuchungen hätten ergeben, dass der Kläger – trotz vorherigen Hinweises auf die Vertraulichkeit – die Bundeswehrdokumente im Unternehmen zirkuliert habe.
Die beiden Vorinstanzen gaben der Kündigungsklage statt, da die Ausschlussfrist gem. § 626 Abs. 2 S. 1 BGB nicht gewahrt sei. Die Beklagte müsse sich das Wissen des Leiters Compliance aus dem Zwischenbericht im Juni 2019 zurechnen lassen.
Dieses Ergebnis teilte das BAG nicht. Die zweiwöchige Kündigungsfrist beginne erst, wenn eine kündigungsberechtigte Person vollständig Kenntnis vom kündigungsrelevanten Sachverhalt erlangt habe. Auf den Zeitpunkt der Kenntnis des (nicht kündigungsberechtigten) Leiters Compliance komme es nicht an. Der Arbeitgeber könne sich nur dann nicht auf die Wahrung der Ausschlussfrist berufen, wenn er selbst zielgerichtet verhindert habe, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hätte erlangen können oder wenn die späte Kenntnisnahme auf einer unsachgemäßen Organisation beruhe. Beides war vorliegend nicht der Fall. Insbesondere sei der Informationsfluss nicht treuwidrig vereitelt worden. Auch der Einsatz eines externen Compliance-Teams an sich spreche bereits dafür, dass sich die Beklagte rechtstreu verhalten wollte.
Das Urteil des BAG ist zu begrüßen, da es Klarheit für Arbeitgeber schafft. Zu Recht entschied das BAG, dass nicht schon der Einsatz einer Compliance-Untersuchung die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB auslöst, da diese zunächst die Voraussetzungen für eine mögliche Kündigung aufdecken soll. Deutlich macht das BAG, dass Arbeitgeber die Sachverhaltsaufklärung nicht beliebig ausdehnen können. Compliance-Ermittlungen, die nicht mehr die Identifikation von Pflichtverstößen verfolgen, sondern ausschließlich unternehmensbezogenen Präventionszielen dienen, sollen nicht mehr zur Aufklärung arbeitsrechtlicher Maßnahmen erfolgen. Es bleibt also ein schmaler Grat, wann die Frist des § 626 BGB ausgelöst wird. Insbesondere bei Zwischenberichten über Compliance-Verstößen ist daher genau zu prüfen, ob hierdurch die Ausschlussfrist in Gang gesetzt wird. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit besagtem Urteil finden Sie hier.
Alexandra Groth
1.6 Haftungsrisiko für Geschäftsführer bei fehlender Compliance- Struktur
Geschäftsführer sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Unternehmensorganisation ausreichende Compliance-Strukturen einzuführen und umzusetzen, um Rechtsverstöße der Gesellschaft bzw. von Mitarbeitern der Gesellschaft zu verhindern. Dabei kann auch das bekannte Vier-Augen-Prinzip als taugliche und notwendige Compliance Maßnahme bedeutsam sein. Wer als Geschäftsleiter auf ein solches Compliance-System verzichtet, setzt sich unter Umständen erheblichen Haftungsrisiken aus.
Das OLG Nürnberg hat mit Urteil vom 30.03.2022 – 12 U 1520/19 entschieden, dass ein Geschäftsführer, der eine Organisationsstruktur unterlässt, die die Wahrung des Vier-Augen-Prinzips für schadensträchtige Tätigkeiten sicherstellt, für hierdurch entstehende Schäden gegenüber der Gesellschaft persönlich haften kann.
Die klagende GmbH & Co. KG machte Schadensersatzansprüche in Höhe von rund EUR 860.000 gegen den Geschäftsführer ihrer Komplementärin geltend. Dieser hatte im Zusammenhang mit der Schädigung der Gesellschaft durch einen veruntreuenden Mitarbeiter seine Überwachungspflichten verletzt. Die Klägerin gibt an ihre Kunden Tankkarten aus, mit denen diese in den von der Klägerin betriebenen Tankstellen bargeldlos tanken können. Mehrere Kartenkunden überzogen ihre Kreditkartenlimits. Der zuständige Mitarbeiter der Klägerin bemerkte dies, unternahm aber nichts, sondern verschleierte die Kreditkartenüberziehung. Ein Vier-Augen-Prinzip im Tätigkeitsbereich des Mitarbeiters wurde trotz ausreichender Schulungen der Geschäftsführung nicht eingehalten.
Das OLG Nürnberg bestätigte im Wesentlichen das erstinstanzliche Urteil, welches den Geschäftsführer zum Ersatz des der Gesellschaft entstandenen Schadens verurteilt hatte. Die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Geschäftsführers (§ 43 Abs.1 GmbHG) umfasse es, eine interne Organisationsstruktur zu schaffen, die die Rechtmäßigkeit und Effizienz ihres Handelns gewährleiste. Dazu gehöre auch, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, die die Begehung von Rechtsverstößen durch die Gesellschaft oder deren Mitarbeitern verhindern. Der Geschäftsführer hafte zwar nicht für fremdes Verschulden von Mitarbeitern, wohl aber dann, wenn durch unzureichende Organisation, Anleitung und Kontrolle Mitarbeitern der Gesellschaft Pflichtverletzungen oder Straftaten zum Nachteil der Gesellschaft ermöglicht oder erleichtert würden. Die Überwachungspflicht könne etwa durch stichprobenartige, überraschende Prüfungen erfolgen. Sei allerdings abzusehen, dass diese Maßnahmen nicht ausreichten, etwa, weil es sich um eine besonders schadensträchtige Tätigkeit handle, könne eine hinreichende Überwachung von Mitarbeitern die Einführung des Vier-Augen-Prinzips erfordern.
Die besondere Bedeutung der Entscheidung für Geschäftsführer liegt auf der Hand. Diese sollten prüfen, ob ein ausreichendes Compliance-Management-System im Unternehmen besteht. Um eigene Überwachungspflichten zu reduzieren, besteht für Geschäftsführer auch die Möglichkeit, die eigenen Überwachungspflichten auf ihnen unmittelbar unterstellte Mitarbeiter zu delegieren. Die sog. Oberaufsicht auf die unterstellten Mitarbeiter und deren Führungs- und Überwachungsverhalten verbleibt aber in jedem Fall beim Geschäftsführer. Zudem ist zu beachten, dass Führungskräfte, die mit der Überwachung von Compliance-Vorgaben betraut werden, hierzu auch ausreichend geschult werden müssen.
Jennifer Bold
1.7 Coronabedingte Betriebsschließungen stellen kein vom Arbeitgeber zu tragendes Betriebsrisiko dar
Das BAG hat mit Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 366/21 seine bisherige Rechtsprechung (BAG vom 13.10.2021 – 5 AZR 211/21) bestätigt und festgehalten, dass Arbeitgeber gerade nicht zur Fortzahlung der Vergütung ihrer Arbeitnehmer verpflichtet sind, wenn durch staatliche Maßnahmen eine vorübergehende Betriebsschließung vorzunehmen war. Die Gründe, mit denen das BAG ein vom Arbeitgeber zu tragendes Betriebsrisiko ablehnt, könnten auch bei der Beurteilung des Lohnrisikos im Rahmen staatlicher Anordnungen anlässlich der Energiekrise Beachtung finden.
In dem zu entscheidenden Fall stritten die Parteien über die Fortzahlung der vertragsgemäßen Vergütung für Zeiten, in denen dem Arbeitgeber der Betrieb einer Spielstätte kraft Allgemeinverfügung der Stadt Wuppertal aus Pandemiegründen untersagt wurde. Sowohl das ArbG Wuppertal als auch das LAG Düsseldorf gaben der Klage der Arbeitnehmerin statt. Mit der beim BAG eingelegte Revision setzte sich die Arbeitgeberin aber erfolgreich zur Wehr.
Das BAG lehnte einen Vergütungsanspruch der Klägerin nach § 615 S. 3 BGB i.V.m. § 615 S. 1 BGB i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB trotz Annahmeverzugs ab, da die beklagte Arbeitgeberin im streitgegenständlichen Fall nicht das Betriebsrisiko trage. Bei einer öffentlich-rechtlich verfügten Betriebsschließung komme es auf den Zweck der behördlichen Maßnahme an: Ergehe die Schließungsverfügung, um einem Risiko zu begegnen, welches durch die Arbeitsmethode und –bedingungen des Arbeitgebers geschaffen würde, so habe auch dieser das Betriebsrisiko und somit das Entgeltrisiko im Annahmeverzugsfall zu tragen. Vorliegend diente die Betriebsschließung aber als allgemeine Maßnahme zur Pandemiebekämpfung, was nicht vom Arbeitgeber zu verantworten sei. Die Möglichkeit, Kurzarbeit anzuordnen oder gar eine Versicherung gegen Betriebsschließungen abzuschließen, stehe dieser Einschätzung nicht entgegen.
Die zutreffenden Ausführungen des BAG geben Arbeitgebern Rechtssicherheit für gleich gelagerte Fälle der Betriebsschließung während der Corona-Pandemie. Erhebliche Bedeutung könnte diese Entscheidung aber auch für die Zukunft haben, sofern die Notfallstufe des Gas-Notfallplans ausgerufen würde. Sollten Unternehmen dadurch z.B. gezwungen sein, ihre Produktion einzustellen, so stellt sich die Frage, ob sie Annahmeverzugslohnansprüchen ihrer Mitarbeiter ausgesetzt sind. Dies dürfte dann nicht der Fall sein, wenn die Bundesregierung einzelne Industriezweige (teilweise) vom Stromnetz nimmt. Unternehmen sollten sich durch die Entscheidungen des BAG allerdings nicht in Sicherheit wiegen: Im Falle der Notfallstufe werden möglicherweise keine Schließungsverfügungen ergehen. Vielmehr könnten Energielieferanten kein Gas mehr zur Verfügung stellen, sodass Unternehmen selbst gezwungen sein werden, die Entscheidung zur (vorübergehenden) Betriebsschließung zu treffen. Insbesondere Unternehmen mit hohen Energiebedarfen sollten daher schnellstmöglich eigene Notfallpläne erstellen und die ihnen zur Verfügung stehenden (rechtlichen) Optionen (z.B. Kurzarbeit) prüfen.
Annabelle Marceau
1.8 Annahmeverzug des Arbeitgebers bei zu weitreichendem Hygienekonzept
Ordnet der Arbeitgeber eine Quarantäne des Arbeitnehmers an, ist er jedenfalls dann verpflichtet, das Arbeitsentgelt für diesen Zeitraum fortzuzahlen, wenn der Arbeitnehmer nicht aufgrund einer gesetzlichen Regelung quarantänepflichtig ist, so das BAG mit Urteil vom 10.08.2022 – 5 AZR 154/22.
Die beklagte Arbeitgeberin, eine Berliner Lebensmittelproduzentin, hatte anlässlich der Covid-19-Pandemie ein betriebliches Hygienekonzept zum Infektionsschutz erstellt. Dieses sah eine Quarantänepflicht mit Betretungsverbot zum Betrieb ohne Entgeltanspruch vor, wenn ein Arbeitnehmer aus einem vom RKI ausgewiesenen Risikogebiet zurückkehrte. Insoweit war das Hygienekonzept von der seinerzeit geltenden Corona-Eindämmungsmaßnahmen-VO des Landes Berlin gedeckt. Hiernach galt die Quarantänepflicht jedoch nicht, wenn Reiserückkehrer über ein ärztliches Attest nebst aktuellem Laborbefund verfügten, der ein negatives PCR-Testergebnis auswies, das höchstens 48 Stunden vor Einreise vorgenommen wurde, und keine Covid-19-Symptome vorlagen. Eine solche Ausnahme sah das Hygienekonzept der Arbeitgeberin aber nicht vor.
Der Kläger unterzog sich vor der Ausreise aus der Türkei, die zu diesem Zeitpunkt vom RKI als Risikogebiet ausgewiesen war, einem PCR-Test, der ebenso wie der erneute Test nach Ankunft in Deutschland negativ war. Der Arzt des Klägers attestierte zudem Symptomfreiheit. Gleichwohl verweigerte die Arbeitgeberin dem Kläger für die Dauer von 14 Tagen den Zutritt zum Betrieb und zahlte diesem kein Arbeitsentgelt. Sie ging damit über die verordnungsrechtlichen Vorgaben des Landes Berlin hinaus. Mit seiner Klage verlangte der Kläger sodann Annahmeverzugslohn. Das LAG gab der Klage statt. Die hiergegen gerichtete Revision der Arbeitgeberin hatte vor dem BAG keinen Erfolg.
Die Arbeitgeberin habe sich mit der Annahme der vom Kläger angebotenen Arbeitsleistung im Annahmeverzug befunden. Das erteilte Betretungsverbot des Betriebs könne nicht nach § 297 BGB zur Leistungsunfähigkeit des Klägers führen, weil die Ursache, weswegen er seine Arbeitsleistung nicht erbringen könne, von der Arbeitgeberin selbst gesetzt wurde. Die Arbeitgeberin habe auch nicht dargelegt, dass ihr die Annahme der Arbeitsleistung aufgrund der konkreten betrieblichen Umstände unzumutbar war. Zudem sei die Weisung, dem Betrieb für die Dauer von 14 Tagen fernzubleiben, ohne dass das Arbeitsentgelt fortgezahlt werde, unbillig und nicht vom Direktionsrecht nach § 106 GewO gedeckt. Zudem hätte sie den nach § 618 BGB erforderlichen und angemessenen Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer ausreichend gewährleisten können, indem sie dem Kläger die Möglichkeit eines weiteren PCR-Tests eröffnete, um eine Covid-19-Infektion weitgehend auszuschließen.
Angesichts der kühler werdenden Jahreszeit steht sicher zu erwarten, dass die Infektionszahlen steigen werden. Zwar können Arbeitgeber auch weiterhin Hygienekonzepte erstellen, die über behördliche Vorgaben hinausgehen. Einem Schutz um jeden Preis, wie er zu Pandemiehochzeiten verbreitet praktiziert wurde, ist das BAG hier unter Hinweis auf die Verhältnismäßigkeit jedoch entgegengetreten. Arbeitgeber sollten ihre Hygienekonzepte daher mit Blick auf die geltenden Maßnahmen fortwährend überprüfen.
Dr. Johannes Kaesbach
1.9 Keine Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden bei Abschluss von Betriebsvereinbarungen
Arbeitgeber dürfen bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung zukünftig nicht mehr darauf vertrauen, dass der Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden auch ein ordnungsgemäßer Gremiumsbeschluss zu Grunde liegt. Die Grundsätze der Anscheinsvollmacht finden keine Anwendung, da Betriebsvereinbarungen auch normativ zu Lasten der betriebsangehörigen Arbeitnehmer Wirkung entfalten können (BAG vom 08.02.2022 – 1 AZR 233/21). Diese äußerst praxisrelevante Entscheidung des BAG legt Arbeitgebern bei Abschluss von Betriebsvereinbarungen von nun an erhöhte Kontrollpflichten auf.
In dem vom BAG zu entscheidenden Fall begehrte ein Arbeitnehmer festzustellen, dass sein Grundgehalt nach einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1967 zu berechnen sei. Nach Auffassung der Arbeitgeberin war diese jedoch wirksam im Jahr 2017 durch eine neue Betriebsvereinbarung abgelöst worden, die der Arbeitnehmer mangels ordnungsgemäßer Beschlussfassung des Betriebsrats für unwirksam hielt. Die Arbeitgeberin berief sich daher zusätzlich auf die Grundsätze der Anscheinsvollmacht, da sie gutgläubig auf die Vertretungsvollmacht des Vorsitzenden vertraut habe und der Betriebsrat sie trotz Kenntnis aller Mitglieder nicht auf das Fehlen einer Beschlussfassung aufmerksam gemacht habe.
Das BAG hielt die im Jahr 2017 geschlossene Betriebsvereinbarung für schwebend unwirksam, da ein ordnungsgemäßer Betriebsratsbeschluss zum Abschluss der Betriebsvereinbarung fehlte. Die Grundsätze der Anscheinsvollmacht seien mit der Rechtsstellung des Betriebsratsvorsitzenden unvereinbar. Gem. § 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG vertrete der Vorsitzende den Betriebsrat nur im Rahmen der vom Gremium gefassten Beschlüsse. Zudem ergebe sich aus dem normativen Charakter der Betriebsvereinbarung, dass etwaige Beeinträchtigungen der Arbeitnehmer aus der Betriebsvereinbarung eines legitimierenden Rechtsgrundes bedürften. Dieser liege in der Willensbildung des Betriebsrats und erfordere einen mehrheitlich getroffenen und ordnungsgemäßen Beschluss.
Von nun an sollten Arbeitgeber daher bei Abschluss von Betriebsvereinbarungen das Vorliegen eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses sorgfältig prüfen. Sie haben das Recht, vom Betriebsrat einen Auszug aus der Sitzungsniederschrift zu verlangen, aus dem sich die Beschlussfassung über den Abschluss der besagten Betriebsvereinbarung ergibt. Dieses Verlangen muss laut BAG „zeitnah“ nach Abschluss der Betriebsvereinbarung erfolgen. Idealerweise sollten sich Arbeitgeber daher bereits zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung den entsprechenden Auszug aus der Sitzungsniederschrift vorlegen lassen und diesen zusammen mit der geschlossenen Betriebsvereinbarung zu Nachweiszwecken archivieren. Dem etwaigen Misstrauensvorwurf des Betriebsrats kann der Arbeitgeber mit schlichtem Hinweis auf dieses BAG-Urteil begegnen. Alternativ kann der Arbeitgeber gem. § 29 Abs. 3 BetrVG selber die Anberaumung einer Betriebsratssitzung und die Ergänzung der Tagesordnung beantragen. Hat er an dieser Sitzung teilgenommen, kann er sich gem. § 34 Abs. 2 BetrVG den entsprechenden Teil der Sitzungsniederschrift aushändigen lassen. Drittens könnte der Mangel eines fehlenden Beschlusses auch durch einen nachträglichen Betriebsratsbeschluss analog § 177 Abs. 1 BGB geheilt werden. Dies erfordert aber naturgemäß die Mitwirkung des Betriebsrats, auf die sich der Arbeitgeber nicht verlassen kann.
Isabel Hexel
1.10 Grobe Pflichtverletzungen des Betriebsrats führen zu seiner Auflösung
Es kommt nicht allzu häufig vor, dass ein Arbeitsgericht tatsächlich die Auflösung eines Betriebsrats bestimmt, weil dieser seine Verpflichtungen grob verletzt hat. Über einen solchen bemerkenswerten Fall hatte das LAG Hessen zu entscheiden, nachdem annähernd zwei Drittel der Belegschaft gemeinsam mit dem Arbeitgeber die Auflösung des Gremiums beantragt hatten.
Der Sachverhalt klingt wie ausgedacht: Die antragstellenden Arbeitnehmer machten geltend, dass das Verhältnis zwischen dem Betriebsrat und der Belegschaft sowie der Geschäftsführung derart unheilbar zerrüttet sei, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr möglich gewesen sei. Der Betriebsrat trete harsch und aggressiv auf, attackiere Kollegen verbal, übe Druck aus und agiere gegen Kollegen und den Arbeitgeber. Gespräche hätten kein Ergebnis gebracht, einer Mediation verweigere sich der Betriebsrat. Die Belegschaft aber wünsche eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber. Der Arbeitgeber führte ergänzend an, dass der Betriebsrat in einem weiteren Gerichtsverfahren über die Ablehnung einer Einstellung nach § 99 BetrVG falsche Behauptungen aufgestellt habe. Damit habe der Betriebsrat verschleiern wollen, dass er die Wochenfrist zur Verweigerung seiner Zustimmung nach § 99 Abs. 3 BetrVG verpasst hatte. Diese falschen Behauptungen über den zeitlichen Ablauf der Zustimmungsverweigerung habe der Betriebsrat auch später nicht korrigiert, obwohl dem Gremium aufgrund weitere Tatsachen hätte klarwerden müssen, dass sein Sachvortrag nicht stimmen könne.
Das LAG Hessen hat den Betriebsrat nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten aufgelöst (Beschluss vom 23.08.2021 – 16 TaBV 3/21). Seine Entscheidung gründet das Gericht dabei maßgeblich auf den Umstand, dass der Betriebsrat in einem gerichtlichen Verfahren gegen den Arbeitgeber bewusst unwahre Tatsachen vorgetragen habe. Dies sei mit dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit unvereinbar. Auch objektiv falsche Vorträge, die zunächst in gutem Glauben erfolgt sein mögen, seien davon umfasst. Den Betriebsrat treffe die Pflicht zur Korrektur, sobald er die Unrichtigkeit des eigenen Vortrags hätte erkennen können. Es bedürfe für die Auflösung des Gremiums grundsätzlich einer groben Pflichtverletzung des gesamten Betriebsrats als Organ, aber auch die Unterstützung oder Billigung gesetzwidrigen Verhaltens einzelner Mitglieder oder seiner Ausschüsse könne ausreichend sein. Hier habe das gesamte Gremium den falschen Sachvortrag gekannt und keine Veranlassung zur Korrektur gesehen. Einer ausdrücklichen Beschlussfassung des Betriebsrates bedürfe es insoweit nicht. Das LAG Hessen hatte sich in seiner Begründung nicht weiter mit der Frage zu befassen, ob auch die von den Arbeitnehmern geschilderten erheblichen atmosphärischen Spannungen allein für eine Auflösung des Betriebsrates ausreichend gewesen wären.
Auch wenn derartige Sachverhalte in der betrieblichen Praxis nicht alltäglich sein dürften, verdeutlicht die Entscheidung, dass das BetrVG durchaus Mittel bereithält, mit denen der Arbeitgeber groben Verstößen des Betriebsrats gegen die ihm obliegenden Verpflichtungen begegnen kann. § 23 Abs. 1 S. 1 BetrVG nennt dabei ausdrücklich auch die Möglichkeit, einzelne Betriebsratsmitglieder aus dem Betriebsrat auszuschließen, wenn diese ihre gesetzlichen Aufgaben und Befugnisse vernachlässigen.
Kathrin Vossen
1.11 Erforderlichkeit eines Laptops für mobile Betriebsratsarbeit
Arbeitgeber können die beanspruchte Zurverfügungstellung eines Laptops für die mobile Betriebsratsarbeit gem. § 40 Abs. 2 BetrVG nicht mit der Begründung verweigern, die Betriebsratstätigkeit sei an der Betriebsstätte auszuüben. § 30 BetrVG ermöglicht seit seiner Novellierung unabhängig von dem Bestehen einer pandemischen Lage Betriebsratssitzungen per Telefon- oder Videokonferenz abzuhalten. Das LAG Köln hat dies mit Beschluss vom 24.06.2022 - 9 TaBV 52/21 ausgeführt und sich einem Beschluss des LAG Hessen angeschlossen (Beschluss vom 14.03.2022 – 16 TaBV 143/21).
Die Beteiligten stritten über die Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Betriebsrat einen Laptop und einen Beamer zur Verfügung zu stellen. Nachdem der mit einem stationären PC ausgestattete Betriebsrat eine Geschäftsordnung zu Betriebsratssitzungen per Telefon- oder Videokonferenz beschlossen hatte, beantragte dieser erstinstanzlich die Bereitstellung eines Laptops eines bestimmten Herstellers mit konkreten technischen Eigenschaften. Im Beschwerdeverfahren bestätigte das LAG Köln den erstinstanzlichen Beschluss des ArbG insoweit, als dass die Bereitstellung eines Laptops mit moderner Standardausstattung gem. § 40 Abs. 2 BetrVG für die Betriebsratstätigkeit als erforderlich anzusehen sei. Das LAG Köln begründete dies damit, dass der Betriebsrat dauerhaft einen Laptop für die Erledigung seiner gesetzlichen Aufgaben benötige. Die Entscheidung über die Erforderlichkeit des Sachmittels wahre den Beurteilungsspielraum des Betriebsrats. § 30 BetrVG ermögliche Betriebsratssitzungen per Telefon- oder Videokonferenz unabhängig von einer pandemischen Lage. Daher könne der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht darauf verweisen, die Betriebsratstätigkeit an der Betriebsstätte auszuüben. Insbesondere genüge eine lediglich im Einzelfall vorübergehende Überlassung eines Tablets nicht, da die Notwendigkeit einer Videokonferenz kurzfristig auftreten könne und dem Betriebsrat die jeweilige Übertragung und Löschung der erforderlichen Daten auf ein temporär überlassenes Tablet unzumutbar sei. Jedoch stehe dem Arbeitgeber bei der Beschaffung ein Auswahlrecht hinsichtlich des Laptops und somit auch bezüglich des Herstellers zu.
Die Entscheidung trägt der in § 30 BetrVG berücksichtigten Digitalisierung der Betriebsratstätigkeit Rechnung. Arbeitgeber, die mit entsprechenden Forderungen durch Betriebsräte konfrontiert sind, sollten die Zurverfügungstellung eines Laptops daher nicht vorschnell ablehnen, sondern eine Einzelfallprüfung vornehmen, um kostenintensive Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.
Moritz Coché
1.12 Grenzen der Mitbestimmung: Raucherpausen nur bedingt mitbestimmungspflichtig
Die Anordnung eines Unternehmens, dass Rauchen nur in den festgelegten Pausen gestattet ist, unterliegt regelmäßig nicht dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, da die Anordnung die Einhaltung der Arbeitszeit sicherstellen soll (LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 29.03.2022).
Unternehmen und Betriebsrat stritten darüber, ob eine Verhaltensanordnung des Arbeitgebers, mit der die zeitliche und räumliche Möglichkeit von Raucherpausen geregelt wird, der Mitbestimmungspflicht durch den Betriebsrat nach § 87 Abs.1 Nr. 1 BetrVG unterliegt. Betriebsrat und Unternehmen hatten die Arbeitszeiten und ein generelles Rauchverbot auf dem Betriebsgelände außerhalb sog. „Raucherinseln“ bereits zuvor in einem Rahmentarifvertrag bzw. in einer Betriebsordnung ausgehandelt. In der streitigen Verhaltensanordnung hat der Arbeitgeber nun noch einmal auf dieses generelle Rauchverbot außerhalb der „Raucherinseln“ hingewiesen und zudem klargestellt, dass das Rauchen nur in den – im Tarifvertrag vorgesehenen – Pausen erlaubt sei. Gegen den erstinstanzlichen Beschluss, mit dem festgestellt wurde, dass die Verhaltensordnung ohne Mitbestimmung des Betriebsrates erlassen werden konnte, legte der Betriebsrat beim LAG Beschwerde ein.
Das LAG bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Zunächst wies es darauf hin, dass der Hinweis, Rauchen sei nur auf den ausgewiesenen „Raucherinseln“ erlaubt, kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates verletze. Mit dem Rahmentarifvertrag und der Betriebsordnung, die das Rauchen nur auf den „Raucherinseln“ erlaubten, existierten bereits tarifliche Regelungen, die einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates entgegenstünden. Aber auch der Hinweis, dass Rauchen nur in den tariflich vorgesehenen Pausen erlaubt sei, verletze kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Das LAG zog diesbezüglich zwar die Verletzung des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG in Betracht, wonach Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb der Mitbestimmung unterliegen. Es stellte – unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung – jedoch dar, dass nach dieser Norm nur solche Regelungen und Weisungen mitbestimmungspflichtig seien, die das betriebliche Zusammenleben und Zusammenwirken der Arbeitnehmer beträfen. Dagegen unterlägen Regelungen und Weisungen, welche unmittelbar die Arbeitspflicht – das sog. Arbeitsverhalten – konkretisierten, nicht der Mitbestimmung. Wirke sich eine Maßnahme zugleich auf das Ordnungs- und Arbeitsverhalten aus, käme es darauf an, welcher Regelungszweck überwiege. Das LAG kam im hiesigen Sachverhalt zu dem Schluss, dass die Verhaltensordnung ausschließlich auf eine Regelung des Arbeitsverhaltens abziele. Es liege allein am Arbeitgeber, ob er während der Arbeitszeit zusätzliche Raucherpausen gestatte. Eine Pflicht zur Gewährung einer Raucherpause während der Arbeitszeit bestehe selbst dann nicht, wenn der Arbeitnehmer aufgrund schwankenden Arbeitsaufkommens gerade unbeschäftigt sei.
Der vorliegende Beschluss zeigt, dass arbeitgeberseitige Vorgaben, die die Einhaltung bestehender Arbeitszeitregelungen festlegen, mitbestimmungsfrei sind. Es ist ein schmaler Grat, aber es ist eben nicht alles mitbestimmungspflichtig. Im Besonderen, wenn es einen hohen Detaillierungsgrad an Arbeitszeitregelungen gibt, ist die Mitbestimmung erschöpft und konkretisierende Vorgaben betreffen in aller Regel das (mitbestimmungsfreie) Arbeitsverhalten.
Jörn Kuhn
1.13 Auskunftsanspruch des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG – Anforderungen an den Aufgabenbezug und an das vom Betriebsrat vorzulegende Datenschutzkonzept
Kann der Arbeitgeber dem Betriebsrat die Auskunft über die im Unternehmen beschäftigten schwerbehinderten Menschen mit Verweis auf den Datenschutz verweigern? In seinem Beschluss vom 20.05.2022 – 12 TaBV 4/21 klärte das LAG Baden-Württemberg den bei Auskunftsbegehren des Betriebsrats im Hinblick auf schwerbehinderte Beschäftigte bestehenden Aufgabenbezug ebenso wie die Anforderungen an ein in diesem Zusammenhang durch den Betriebsrat vorzulegendes Datenschutzkonzept.
Der Betriebsrat verlangte von der Arbeitgeberin die Mitteilung der Anzahl und Namen der im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten bzw. ihnen gleichgestellten Menschen, um die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung zu planen und entsprechend § 80 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG an der Eingliederung schwerbehinderter Menschen mitzuwirken. Die Arbeitgeberin lehnte die Unterrichtung mit der Begründung ab, dass die relevanten Daten dem Datenschutz unterlägen. Es fehle am erforderlichen Einverständnis der Mitarbeiter sowie an einem konkreten Aufgabenbezug. Der Betriebsrat arbeitete daraufhin seinerseits ein Datenschutzkonzept aus und legte dieses der Arbeitgeberin vor.
Das LAG hat entschieden, dass der Betriebsrat einen ausreichenden Aufgabenbezug dargelegt und das erforderliche Datenschutzkonzept ordnungsgemäß ausgearbeitet habe, sodass die Voraussetzungen für einen Auskunftsanspruch vorlägen. Die Erforderlichkeit der Unterrichtung ergebe sich aus dem konkreten Vortrag des Betriebsrats zum Plan der Initiierung einer Wahl zur Schwerbehindertenvertretung. Insbesondere müsse dafür die Frage einer Wahlberechtigung bereits frühzeitig feststehen. Der Auskunftsanspruch ergebe sich zudem aus § 80 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG, § 176 SGB IX, da es hier nicht nur um die Überwachungsverpflichtung gem. § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG gehe, sondern auch um die Einhaltung der Vorschriften zur Eingliederung schwerbehinderter Menschen. Die Einwilligung der schwerbehinderten Menschen sei nicht erforderlich, da das BetrVG die Erfüllung der Aufgaben des Betriebsrats nicht von einer Einwilligung der Arbeitnehmer abhängig mache. Es bestehe auch kein Grund zu der Annahme, dass schutzwürdige Interessen der schwerbehinderten Menschen der begehrten Auskunft entgegenstünden, da der entsprechenden Anwendung des § 22 Abs. 2 BDSG Rechnung getragen sei. Der Betriebsrat habe ein ausreichendes Datenschutzkonzept vorgelegt.
Der Beschluss des LAG Baden-Württemberg zeigt, dass der Datenschutz auch im kollektiven Arbeitsrecht angekommen ist. Bereits mit Einführung des § 79a BetrVG waren vom Betriebsrat bei der Verarbeitung personenbezogener Daten die Vorschriften über den Datenschutz einzuhalten. Das LAG Baden-Württemberg hielt in seiner Entscheidung nun fest, dass der Betriebsrat insoweit dieselben Anforderungen beachten muss, wie auch der Arbeitgeber, und sich aus § 26 Abs. 3 und § 22 Abs. 2 BDSG die Notwendigkeit eines Datenschutzkonzeptes ergebe. Ein Fehlen solcher Schutzmaßnahmen oder deren Unzulänglichkeit führe zum Ausschluss des Auskunftsanspruchs.
Arbeitgeber haben daher eine zweistufige Vorprüfung vorzunehmen, bevor Daten an den Betriebsrat herausgegeben werden. Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob eine betriebsverfassungsrechtliche Aufgabe besteht, und im zweiten Schritt, ob die Ausgestaltung der Datenverarbeitung durch den Betriebsrat datenschutzkonform ist. Liegt kein ausreichendes Datenschutzkonzept vor, kann die Herausgabe der Daten verweigert werden.
Anja Dombrowsky
2. Rechtsentwicklungen
Die neue SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV)
Am 09.09.2022 hat der Bundestag die neue SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV), welche ab dem 01.10.2022 zur Anwendung gelangt, beschlossen. Die veröffentlichten Regelungen sind im Vergleich zu dem vorangegangenen Referentenentwurf deutlich entschärft und übergeben letztlich einen bunten Strauß an möglichen Schutzmaßnahmen in den Verantwortungsbereich der Arbeitgeber.
Pünktlich zum Ende der vermeintlichen „Corona-Sommerpause“ hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil eine neue SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) auf den Weg gebracht. Diese soll bereits ab dem 01.10.2022 zur Anwendung kommen, um den voraussichtlich steigenden Infektionszahlen im kommenden Herbst und Winter wirksam begegnen zu können. Die Verordnung wurde erneut befristet, sodass mit Ablauf des 07.04.2023 eine neue Einschätzung der Infektionslage vorgenommen werden wird.
Am 24.08.2022 wurde zunächst ein Referentenentwurf der Corona-ArbSchV veröffentlicht, welche u.a. erneut ein verpflichtendes Angebot der Arbeitgeber zur Erbringung der Arbeitsleistung im Home-Office sowie das Zurverfügungstellen von Testmöglichkeiten vorsah. Diese Regelungen haben allerdings keinen Eingang in die verabschiedete Verordnung gefunden. Vielmehr steht nun die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Erstellung eines betrieblichen Hygienekonzepts im Fokus.
Das zu entwickelnde Hygienekonzept ist auf Grundlage der Gefährdungsbeurteilung nach §§ 5, 6 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) aufzustellen, wobei die folgenden Maßnahmen in Erwägung zu ziehen sind:
- Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5m zwischen zwei Personen,
- Sicherstellung der Handhygiene,
- Einhaltung der Hust- und Niesetikette,
- Infektionsschutzgerechtes Lüften von Innenräumen,
- Verminderung von betriebsbedingten Personenkontakten,
- Angebot von Home-Office, soweit keine betriebsbedingten Gründe dagegen sprechen,
- Angebot kostenfreier Testmöglichkeiten für Arbeitnehmer, die nicht im Home-Office arbeiten
Die Verordnung sieht allerdings vor, dass Arbeitgeber medizinische Gesichtsmasken zur Verfügung stellen müssen, sofern sonstige technische und organisatorische Schutzmaßnahmen zum Schutz der Beschäftigten nicht ausreichend sind. Des Weiteren sind Arbeitgeber verpflichtet, ihre Arbeitnehmer für Zeiten, in denen eine Corona-Schutzimpfung vorgenommen wird, bezahlt von der Erbringung der Arbeitsleistung freizustellen.
Im Ergebnis stellen die Regelungen in der neuen Corona-ArbSchV keine Überraschungen dar, sodass eine betriebliche Umsetzung vor keinen allzu großen Herausforderungen stehen dürfte. Sofern bisher allerdings noch kein entsprechendes Hygienekonzept erstellt wurde, ist nun Eile geboten. Zu berücksichtigen sind dabei auch die Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmervertretern.
Annabelle Marceau
3. 14. Arbeitsrechtstag bei Oppenhoff am 10.11.2022
Am 10. November 2022 findet von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr unser diesjähriger Arbeitsrechtstag in unserem Büro in Köln statt. Die Veranstaltung wird hybrid durchgeführt, daher besteht ebenfalls die Möglichkeit einer Online-Teilnahme.
Thematisch widmen wir uns am Vormittag dem Fachkräftemangel und beleuchten neben aktuellen Entwicklungen den „arbeitsrechtlichen Werkzeugkasten“ zur Mitarbeitergewinnung und –bindung. Ferner stellen wir Ihnen zum Thema ESG die zukünftigen Herausforderungen von Unternehmen im Bereich der Berichtspflichten und deren Ausstrahlung ins Arbeitsrecht dar.
Am Nachmittag wird uns Prof. Dr. Greiner von den arbeitsrechtlichen Entwicklungen rund um die Themen Digitalisierung und künstliche Intelligenz berichten und zu den Auswirkungen des BAG-Urteils zur Zeiterfassung Stellung nehmen. Anschließend folgt in bewährter Weise ein Überblick über die jüngsten und wichtigsten Entscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie nennenswerte Gesetzesvorhaben unter Einbindung aktueller Themen im Zusammenhang mit der Energiekrise.
Wir würden uns freuen, Sie an diesem Tag zu interessanten Vorträgen und lebhaften Diskussionen begrüßen zu dürfen. Weitere Informationen finden Sie hier.
Für Rückfragen und Anmerkungen sind die Autoren unmittelbar per E-Mail [email protected] zu erreichen.
Anja Dombrowsky
PartnerinRechtsanwältin
OpernTurm
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