31.03.2022 Newsletter
Fokus Arbeitsrecht – 1. Quartal 2022
Die bundesweite Corona-bedingte Homeoffice-Pflicht ist im März 2022 ausgelaufen. Seitdem werden Stimmen wieder laut, die einen gesetzlichen Anspruch der Arbeitnehmer auf Homeoffice fordern. Im Jahr 2020 dachte die damalige Regierung über einen Anspruch auf mindestens 24 Homeoffice-Tage im Jahr pro Arbeitnehmer nach. Heute gehen die Überlegungen der Ampel-Koalition in Richtung eines deutlich abgeschwächten „Erörterungsanspruchs“ des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber. Selbstverständlich halten wir Sie auch zu diesen Entwicklungen auf dem Laufenden. Außerdem ist die betriebliche 3G-Regel mit Ausnahme von besonderen Einrichtungen zum Ablauf des 19.03.2022 entfallen. Aus diesem Grund ist es mangels datenschutzrechtlicher Eingriffsgrundlage nicht länger zulässig, den Zugang zum Betrieb von einem Impf- oder Genesenennachweis abhängig zu machen. Die in diesem Zusammenhang gespeicherten Daten sind unwiderruflich zu löschen.
Mit diesem ersten Fokus Arbeitsrecht des Jahres 2022 möchten wir Sie darüber hinaus noch über weitere relevante Entwicklungen in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Gesetzgebung informieren.
1. Neue Rechtsprechung – Individualarbeitsrecht
1.1 Zum Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsverträgen
1.2 Neues zum Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG
1.3 Kein Zwang zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement
2. Neue Rechtsprechung – Kollektivarbeitsrecht
2.1 Abfindungshöchstbetrag im Sozialplan und Klageverzichtsprämie
2.2 Massenentlassungsverfahren – BAG legt Frage zur Übermittlungspflicht dem EuGH vor
2.3 Mitbestimmung des Betriebsrates bei Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Regelrentenalters
2.4 Arbeitgeber haben Anspruch auf Einsicht in die Wahlunterlagen
2.5 Kein Zustimmungsverweigerungsrecht bei einer mitbestimmungswidrigen Personalrichtlinie
3.1 Bundeskabinett hat Mindestlohnerhöhung beschlossen
3.2 Beschäftigung ukrainischer Staatsbürger und sonstiger Geflüchteter aus ukrainischem Staatsgebiet
1. Neue Rechtsprechung – Individualarbeitsrecht
1.1 Zum Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsverträgen
Macht der Arbeitgeber den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig, stellt dies allein noch keine zum Schadensersatz führende (vor-) vertragliche Pflichtverletzung dar. Dies gilt auch, wenn dem Arbeitnehmer weder Bedenkzeit verbleibt, noch er Rechtsrat einholen kann. Ob das Gebot fairen Verhandelns verletzt ist, richtet sich nach den Gesamtumständen der Verhandlungssituation im Einzelfall, so das BAG vom 24.02.2022 – 6 AZR 333/21.
Die Parteien stritten über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses, nachdem sie einen Aufhebungsvertrag geschlossen hatten. Die Beklagte bat die Klägerin am 22.11.2019 zu einem Gespräch in ihr Büro, ohne dessen Inhalt vorab anzukündigen. Hieran nahm auch der spätere Prozessbevollmächtigte der Beklagten teil. Die Beklagte warf der Klägerin vor, dass sie in der Vergangenheit unberechtigt Einkaufspreise für Waren in der EDV abgeändert und reduziert habe, um so einen höheren Verkaufsgewinn zu suggerieren. Der Rechtsanwalt legte der Klägerin sodann einen Aufhebungsvertrag mit dem Hinweis vor, dass dieser nur sofort angenommen werden könne. Nach einer zehnminütigen Gesprächspause, in der die drei anwesenden Personen schweigend am Tisch saßen, unterzeichnete die Klägerin den von der Beklagten vorbereiteten Aufhebungsvertrag. Am 29.11.2019 focht die Klägerin den Aufhebungsvertrag wegen widerrechtlicher Drohung an.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin u. a. den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht. Ihr sei für den Fall der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrags die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung sowie die Erstattung einer Strafanzeige in Aussicht gestellt worden. Ihrer Bitte nach längerer Bedenkzeit um Rechtsrat einholen zu können, sei nicht entsprochen worden. Damit habe die Beklagte gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen.
Das BAG teilte diese Auffassung nicht. Eine Widerrechtlichkeit der Drohung habe nicht vorgelegen, da die Beklagte eine außerordentliche Kündigung sowie eine Strafanzeige ernsthaft habe erwägen dürfen. Nach den vom BAG in einer früheren Entscheidung entwickelten Maßstäben (vgl. Urteil vom 07.02.2019 – 6 AZR 75/18) sei keine unfaire Verhandlung der Beklagten festzustellen. Die Entscheidungsfreiheit der Klägerin sei nicht verletzt worden, indem ihr der Aufhebungsvertrag nach § 147 Abs. 1 BGB zur sofortigen Annahme unterbreitet worden sei und sie sofort habe entscheiden müssen. Das Gebot fairen Verhandelns verpflichte den Arbeitgeber nicht dazu, eine für den Arbeitnehmer besonders angenehme Verhandlungssituation zu schaffen. Es gehe vielmehr um ein Mindestmaß an Fairness im Vorfeld des Vertragsschlusses. Ein Verstoß liege erst vor, wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt würde, die eine freie und überlegte Entscheidung des Arbeitnehmers erheblich erschwerte oder sogar unmöglich mache.
Fazit: Ein Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns liegt nur in Extremfällen vor. Es handelt sich praktisch um ein „Verbot unfairen Verhandelns“. Der auf Schadensersatz in Form der sog. Naturalrestitution gerichtete Anspruch nach §§ 311 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. 241 Abs. 2 BGB führt also nur in Ausnahmefällen wegen eines unwirksamen Aufhebungsvertrags zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Nichts desto trotz dürfte es für Arbeitgeber ratsam sein, dem Arbeitnehmer eine gewisse Bedenkzeit einzuräumen, und sei es nur die berühmte eine Nacht.
Johannes Peter Kaesbach
1.2 Neues zum Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG
Seit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) haben sich die Arbeitsgerichte regelmäßig mit Entschädigungsansprüchen nach § 15 Abs. 2 AGG zu befassen. Auch wenn man angesichts der Fülle an Rechtsprechung den Eindruck haben könnte, dass mittlerweile so ziemlich alles gesagt sei, legt das BAG mit seinem Urteil vom 25.11.2021 - 8 AZR 313/20 „noch einen drauf“.
Im November 2017 veröffentlichte der beklagte sächsische Landkreis über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit ein Stellenangebot. Danach sollte eine Stelle als „Amtsleiter/in Rechts- und Kommunalamt (Jurist/in)“ besetzt werden. In der Stellenausschreibung hieß es u. a., dass das Aufgabengebiet die Leitung des Rechts- und Kommunalamts mit seinerzeit ca. 20 Bediensteten umfasse. Zudem würden ein abgeschlossenes dort näher bezeichnetes Hochschulstudium sowie mehrjährige einschlägige Berufserfahrung erwartet.
Der mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehinderte Klägerbewarb sich im November 2017 unter Angabe seiner Schwerbehinderung erfolglos auf die ausgeschriebene Stelle. Er brachte den erforderlichen Studienabschluss mit, nicht aber die geforderte Berufserfahrung. Er wurde von dem beklagten Landkreis schon nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Der Kläger machte einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG zunächst außergerichtlich und sodann gerichtlich geltend. Im Rahmen der Entschädigungsprozesse wandte der Kläger insbesondere ein, dass der freie Arbeitsplatz entgegen den Vorgaben von § 165 S. 1 SGB IX nicht der zuständigen Agentur für Arbeit gemeldet worden sei.
Das BAG sprach, anders als die Vorinstanzen, dem Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu. Der beklagte Landkreis habe es entgegen § 165 S. 1 SGB IX unterlassen, den ausgeschriebenen, mit schwerbehinderten Menschen besetzbaren Arbeitsplatz der zuständigen Agentur für Arbeit zu melden. Die Veröffentlichung des Stellenangebots über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit stelle insofern keine Meldung i. S. v. § 165 S. 1 SGB IX dar. Der Umstand der unterlassenen Meldung begründe die Vermutung, dass der Kläger im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen der Schwerbehinderung benachteiligt worden sei.
Angesichts der bisherigen Rechtsprechung überrascht es nicht, dass öffentliche Arbeitgeber ihre Meldepflicht aus § 165 S. 1 SGB IX nicht durch die Veröffentlichung in der Jobbörse der Arbeitsagentur erfüllen können. Denn durch die direkte Meldung i. S. d. § 165 S. 1 SGB IX soll den Agenturen für Arbeit ermöglicht werden, schwerbehinderte Beschäftigte an mögliche Arbeitgeber zu vermitteln. Öffentlichen Arbeitgebern ist daher zu empfehlen, ihre Meldepraxis gegenüber den Agenturen für Arbeit nach § 165 S. 1 SGB zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern.
Überraschend war jedoch Folgendes: Die Vorinstanzen waren noch davon ausgegangen, dass der Kläger aufgrund seiner nur einjährigen Berufserfahrung die formalen Voraussetzungen der Stellenausschreibung nicht erfüllt habe und deshalb für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich ungeeignet gewesen sei. Im Falle offensichtlicher Ungeeignetheit ist eine Einladung zum Vorstellungsgespräch entbehrlich. Das Urteil des BAG, zu dem aktuell nur eine Pressemitteilung vorliegt, erweckt aber den Eindruck, als könnten offensichtlich ungeeignete Bewerber gleichwohl einen Entschädigungsanspruch allein wegen eines formalen Fehlers haben. Sollte dieser Eindruck durch die schriftlichen Urteilsgründe bestätigt werden, wäre dies eine weitere Verschärfung der AGG-Rechtsprechung.
Daniel Gorks
1.3 Kein Zwang zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement
Nur auf den ersten Blick scheint die jüngste Entscheidung des BAG zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement („BEM“) erfreulich: Der Arbeitgeber kann vom Arbeitnehmer nicht zur Durchführung eines BEM gezwungen werden. Auf den zweiten Blick aber wird klar, warum es für den Arbeitgeber selten eine gute Idee ist, ein BEM zu unterlassen.
Der Arbeitnehmer war wiederholt lange arbeitsunfähig, zuletzt vom 01.01.2019 bis zum 25.08.2019. Anfang August 2019 verlangte der Arbeitnehmer, der einem Schwerbehinderten gleichgestellt war, von der Arbeitgeberin die Durchführung eines BEM. Nachdem dies abgelehnt wurde, klagte der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeberin auf Einleitung und Durchführung eines BEM. Er vertrat dabei die Auffassung, aus § 167 Abs. 2 SGB IX folge zu seinen Gunsten ein unmittelbarer Anspruch auf ein BEM.
Sowohl das LAG Nürnberg als auch das BAG wiesen die Klage ab (BAG vom 07.09.2021 – 9 AZR 571/20). Das BAG stellte in seiner Entscheidung klar, dass § 167 Abs. 2 SGB IX für den individuellen Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Einleitung und Durchführung eines BEM begründe, auch wenn (wie hier) unzweifelhaft mehr als 6 Wochen Arbeitsunfähigkeit vorlägen. Der Wortlaut des § 167 Abs. 2 SGB IX gewähre dem Betriebsrat und der Schwerbehindertenvertretung ausdrücklich bestimmte Rechte im Zusammenhang mit dem BEM, nicht aber dem einzelnen Arbeitnehmer. Ein durchsetzbarer Individualanspruch sei aus § 167 Abs. 2 SGB IX auch nicht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention („UN-BRK“) herauszulesen. Diese verlange von der Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat angemessene Vorkehrungen zum Schutze von Menschen mit Behinderungen. § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX weise dem Arbeitgeber die Initiativlast zur Durchführung eines BEM zu. Daraus folge seine Verpflichtung, zur Begründung einer (krankheitsbedingten) Kündigung im Kündigungsschutzprozess die objektive Nutzlosigkeit eines BEM darzulegen und zu beweisen. Dies sei eine hinreichend effektive Schutzmaßnahme im Sinne der UN-BRK.
Auch wenn es nicht ins Auge springt, betont diese Entscheidung doch eindrucksvoll die Bedeutung eines BEM gerade auch für den Arbeitgeber, der das Arbeitsverhältnis mit einem langzeiterkrankten Arbeitnehmer beenden möchte. Das BAG fordert im Falle eines unterlassenen BEM vom Arbeitgeber in ständiger Rechtsprechung, die objektiven Nutzlosigkeit eines BEM darzulegen und zu beweisen. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess von sich aus nicht nur alle denkbaren oder vom Arbeitnehmer bereits vorgebrachten alternativen Einsatzmöglichkeiten würdigen muss. Er muss vielmehr auch detailliert vortragen, warum ein BEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, das Arbeitsverhältnis bzw. die Beschäftigungsmöglichkeit zu erhalten. In der Praxis scheitern Arbeitgeber regelmäßig an dieser Klippe und eine krankheitsbedingte Kündigung bleibt erfolglos. Arbeitgeber, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in den Blick nehmen wollen, sollten daher in jedem Falle von sich aus ein (ordnungsgemäßes) BEM anbieten.
Ob der Wortlaut des § 167 Abs. 2 SGB IX indes in seiner jetzigen Form verbleibt, d. h. ohne einen individuell durchsetzbaren Anspruch des Arbeitnehmers, ist noch nicht klar. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist von einer „flächendeckenden Verbindlichkeit“ des BEM die Rede. Dieses Ziel könnte der Gesetzgeber in der laufenden Legislaturperiode möglicherweise mit der ausdrücklichen Festschreibung eines einklagbaren Rechtsanspruchs der Arbeitnehmerseite in § 167 Abs. 2 SGB IX erreichen.
Kathrin Vossen
1.4 Vorsicht bei Compliance-Untersuchungen: Kenntniszurechnung des nicht kündigungsbefugten Compliance-Leiters
Das LAG Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 03.11.2021 – 10 Sa 7/21 entschieden, dass die Geschäftsführung bei Compliance-Untersuchungen sicherstellen müsse, dass sie zeitnah über den Stand der Ermittlungen informiert wird. Anderenfalls führe die fahrlässige Unkenntnis infolge Organisationsverschuldens zur Wissenszurechnung der Person, die in herausgehobener Position tätig und mit der Aufklärung des Sachverhalts betraut war, in diesem Fall des Leiters Legal & Compliance.
Die Beklagte stritt mit dem zuletzt als Vertriebsleiter tätigen Kläger über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung sowie über widerklagend geltend gemachte Ermittlungskosten. Dem sonderkündigungsgeschützten Kläger wird vorgeworfen, geheimhaltungspflichtige Bundeswehrdokumente mit vergaberechtlicher Relevanz unberechtigterweise weitergegeben zu haben. Nachdem im Juli 2018 Hinweise auf etwaige Verfehlungen bei der Compliance-Abteilung der Beklagten eingegangen waren, folgte die Einleitung interner Ermittlungen, im Oktober 2018 die Beauftragung einer externen Kanzlei zur Durchführung einer Untersuchung, im Dezember 2018 eine IT-forensische Auswertung sowie von April bis Juni 2019 eine Datensichtung. Die Geschäftsführung erhielt erstmals im September 2019 einen Zwischenbericht, woraufhin dem Kläger binnen zwei Wochen fristlos gekündigt wurde.
Gegen das erstinstanzliche klagestattgebende Urteil wendet sich die Berufung der Beklagten. Diese blieb erfolglos, da die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB verstrichen sei. Auch wenn vorliegend der Leiter Compliance selbst nicht kündigungsberechtigt war, sei dessen Kenntnis vom Stand der Ermittlungen der Geschäftsführung aufgrund Organisationsverschuldens zuzurechnen. Denn die Geschäftsführung habe nicht sichergestellt, dass sie fortlaufend über den Stand der Ermittlungen informiert wird. Zudem habe der Leiter Compliance eine hervorgehobene Position bekleidet und sei tatsächlich und rechtlich in der Lage gewesen, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt mit Blick auf eine Kündigung zu klären. Die Beklagte vermochte sich auch nicht auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen berufen, da sie selbst interne Ermittlungen eingeleitet habe. Sukzessive Kündigungen seien ab Beendigung des Erkenntnisgewinns im Juni 2019 möglich gewesen, ohne weitere Ermittlungen zu gefährden. Die widerklagend geltend gemachten Ermittlungskosten seien mit Blick auf den Kläger nicht ausreichend individualisiert und anhand konkreter Ermittlungsschritte dargelegt worden.
Die Entscheidung ist von hoher praktischer Relevanz. Gerade bei internen Ermittlungen stellt sich regelmäßig die Frage, wann die Zwei-Wochen-Kündigungserklärungsfrist in Gang gesetzt wird. Kündigungsberechtigte Personen können sich nicht schlicht „blind und taub“ stellen, sondern müssen – um eine Wissenszurechnung zu vermeiden – organisatorisch „sicherstellen“, zeitnah über Ermittlungsergebnisse unterrichtet zu werden. Auch bei Ermittlungen gegen eine Vielzahl von Arbeitnehmern darf nicht bis zum Abschluss aller Ermittlungen gewartet werden, sondern jeder Vorwurf ist individuell zu betrachten. Ermittlungskosten sind nur ersatzfähig, wenn der Arbeitgeber eine bezogen auf den Arbeitnehmer individualisierte Aufstellung des Aufwands und dessen Erforderlichkeit darzulegen vermag (grundlegend dazu BAG vom 29.04.2021 - 8 AZR 276/20).
Isabel Hexel
1.5 Tarifvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf Arbeitgeberzuschüsse zur Entgeltumwandlung bei betrieblicher Altersvorsorge
Wandeln Arbeitnehmer Teile ihres Bruttoarbeitsentgelts in eine betriebliche Altersvorsorge um, sind Arbeitgeber seit dem 01.01.2018 verpflichtet, diese Entgeltumwandlung mittels der ersparten Sozialversicherungsbeiträge zu bezuschussen. Dies gilt seit dem 01.01.2022 unabhängig von dem Abschlusszeitpunkt der Entgeltumwandlungsvereinbarung. Mittels Tarifvertrags kann von der Zuschusspflicht auch zu Lasten des Arbeitnehmers abgewichen werden.
Das BAG hat mit zwei Urteilen vom 08.03.2022 entschieden, dass ein Anspruch auf einen Arbeitgeberzuschuss aufgrund eines Tarifvertrags ausgeschlossen werden kann, der vor dem 01.01.2018 geschlossen worden ist (Urteil vom 08.03.2022 – 3 AZR 361/21; Urteil vom 08.03.2022 - 3 AZR 362/21).
Die Parteien stritten in den zugrundeliegenden Verfahren jeweils über die arbeitgeberseitige Verpflichtung, in den Jahren 2019 und 2020 umgewandeltes Entgelt zu bezuschussen. Ausweislich der vorliegenden Pressemitteilung (Nr. 11/22) hat das BAG die klageabweisenden Urteile der Vorinstanzen bestätigt. Die Entgeltumwandlung erfolgte auf Grundlage eines Verbandstarifvertrags aus dem Jahr 2008. Dieser ermöglicht den beiden klagenden Arbeitnehmern, Entgelt bis zur steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Höchstgrenze umzuwandeln, und normiert die Gewährung eines kalenderjährlichen Altersvorsorgegrundbetrags durch den Arbeitgeber. Der Verbandstarifvertrag gilt für einen Kläger unmittelbar und zwingend kraft beidseitiger Tarifbindung und für den anderen Kläger infolge einer Inbezugnahme in einem Haustarifvertrag aus dem Jahr 2019.
Nach Ansicht des BAG haben die verbandstarifvertraglichen Regelungen aus dem Jahr 2008 zur Entgeltumwandlung Ansprüche auf Arbeitgeberzuschüsse jedenfalls für die Jahre 2019 und 2020 ausschließen können. Der Ausschluss stimme inhaltlich mit der gesetzlichen Übergangsregelung in § 26a BetrAVG überein. Diese findet nach der Klarstellung des BAG, dass es sich bei Tarifverträgen um kollektivrechtliche Entgeltumwandlungsvereinbarungen gemäß § 26a BetrVG handelt, Anwendung. Danach entsteht eine gesetzliche Arbeitgeberzuschusspflicht erst ab dem 01.01.2022, wenn die Entgeltumwandlungsvereinbarungen – wie hier - vor dem 01.01.2019 geschlossen worden sind.
Praktisch verdeutlichen die Entscheidungen, dass Arbeitgeber bestehende Entgeltumwandlungsvereinbarungen, auch wenn diese in ferner Vergangenheit geschlossen worden sind, hinsichtlich einer nunmehr bestehenden gesetzlichen Zuschusspflicht überprüfen sollten. Hierbei ist die Thematik der Anrechenbarkeit freiwilliger Arbeitgeberzuschüsse stets mitzudenken und mitzuregeln, um böse Überraschungen zukünftig zu vermeiden.
2. Neue Rechtsprechung – Kollektivarbeitsrecht
2.1 Abfindungshöchstbetrag im Sozialplan und Klageverzichtsprämie
Im Rahmen von Sozialplanverhandlungen besteht für Unternehmen regelmäßig ein Interesse daran, neben der Abfindung im Sozialplan eine Prämie für einen Kündigungsschutzverzicht des Arbeitnehmers zu vereinbaren. Gleichzeitig wird vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Mittel im Sozialplan meist ein Höchstbetrag der maximal auszuzahlenden Abfindung festgelegt. Eine Kombination dieser Regelungen ist zulässig, sollte aber im Rahmen der Umsetzung sorgfältig durchdacht sein, wie die vorliegende Entscheidung des BAG verdeutlicht (BAG vom 07.12.2021 – 1 AZR 562/20).
In dem zugrundeliegenden Verfahren schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Sozialplan aus Anlass einer geplanten Betriebsschließung. Dieser sah für gekündigte Arbeitnehmer einen Abfindungsanspruch nach der Formel "Betriebszugehörigkeit x Bruttomonatseinkommen x Faktor" vor, wobei der Faktor abhängig vom Alter der Arbeitnehmer variierte. Der Abfindungsbetrag war je Arbeitnehmer auf einen Höchstbetrag von EUR 75.000 beschränkt. In einer gesonderten Betriebsvereinbarung vereinbarten die Betriebsparteien, dass sich der Abfindungsanspruch für Arbeitnehmer erhöht, wenn diese keine Kündigungsschutzklage erheben. Der gekündigte Kläger, der keine Kündigungsschutzklage erhoben hatte, erhielt eine Sozialplanabfindung in Höhe von EUR 75.000.
Mit seiner Klage macht der Kläger u. a. geltend, er habe Anspruch auf Zahlung einer Klageverzichtsprämie sowie einer höheren Abfindung nach dem Sozialplan. Die Höchstbetragsregelung im Sozialplan gelte nicht für die Klageverzichtsprämie und sei im Übrigen unwirksam. Sie benachteilige ihn wegen seines Alters.
Während die Vorinstanzen die Klageansprüche abgelehnt hatten, sprach das BAG dem Kläger einen Anspruch auf Zahlung der Klageverzichtsprämie zu. Die Höchstbetragsregelung des Sozialplans finde auf den Klageverzichtsanspruch aus der Betriebsvereinbarung keine Anwendung. Zur Begründung stützt sich das BAG neben dem Wortlaut und dem Gesamtkontext der Regelungen auch auf den verfolgten Zweck der Klageverzichtsprämie: Ein Anreiz zum Klageverzicht werde nur dann gesetzt, wenn er sich auch in jedem Fall finanziell beim Arbeitnehmer auswirke.
Demgegenüber verneinte das BAG einen Anspruch des Klägers auf eine höhere Sozialplanabfindung. Die Höchstbetragsregelung verstoße nicht gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 75 Abs.1 BetrVG). Zwar könne sich aufgrund der Berechnungsmethode der Sozialplanabfindung für bestimmte Altersgruppen eine besonders hohe Abfindung ergeben, die dann durch den Höchstbetrag "abgeschnitten" werde. Allerdings diene die Höchstbetragsregelung der Verteilungsgerechtigkeit vor dem Hintergrund begrenzter Sozialplanmittel. Diese war im vorliegenden Fall auch angemessen, die Ungleichbehandlung damit sachlich gerechtfertigt.
Positiv ist zu bewerten, dass das BAG in seiner Entscheidung die Gestaltungsspielräume der Betriebsparteien beim Abschluss von Sozialplanabfindungen stärkt. Die umfangreichen Ausführungen des BAG zur Auslegung der betreffenden Regelungen machen aber deutlich, dass es maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. So ist etwa eine Höchstbetragsregelung nur dann wirksam, wenn im Einzelfall gewährleistet ist, dass die maximal zu zahlende Abfindung die durch den Verlust des Arbeitsplatzes entstehenden Nachteile substantiell abmildert und tatsächlich eine gerechte Verteilung des Sozialplanvolumens erreicht wird.
Jennifer Bold
2.2 Massenentlassungsverfahren – BAG legt Frage zur Übermittlungspflicht dem EuGH vor
Das Massenentlassungsanzeigeverfahren ist voller Stolperfallen für den Arbeitgeber: Werden hier Fehler gemacht, hat dies in den meisten Fällen die Unwirksamkeit aller betroffenen Kündigungen zur Folge. Das BAG hat dem EuGH nun die Frage vorgelegt, ob auch die Versäumung einer besonders frühzeitigen (und lediglich vorbereitenden) Mitteilung an die Bundesagentur für Arbeit zur Unwirksamkeit der betroffenen Kündigungen führt.
Das BAG (Beschluss vom 27.01.2022 - 6 AZR 155/21 (A)) hatte über einen Insolvenzfall zu entscheiden, in dem die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebes zum 30.04.2020 beschlossen wurde. Mit dem Betriebsrat wurden daraufhin Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleiches und eines Sozialplanes aufgenommen, da alle zuletzt noch 195 beschäftigten Arbeitnehmer des Betriebes entlassen werden sollten. Die Arbeitgeberin verband das nach § 17 Abs. 2 KSchG erforderliche Konsultationsverfahren mit dem Interessenausgleichsverfahren. Entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG wurde der zuständigen Agentur für Arbeit jedoch keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt. Eine Massenentlassungsanzeige wurde allerdings rechtzeitig – also vor Ausspruch der ersten Kündigung – erstattet. Der Kläger machte die Unwirksamkeit der Kündigung geltend. Diese folgte aus seiner Sicht daraus, dass der Arbeitgeber die an den Betriebsrat gerichtete Mitteilung über die Einleitung des Konsultationsverfahrens entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht an die zuständige Agentur für Arbeit weitergeleitet habe.
Der 6. Senat des BAG hatte als Vorfrage bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung zu prüfen, ob das Massenentlassungsanzeigeverfahren einschließlich des Konsultationsverfahrens wirksam abgeschlossen wurde. Dabei sah es sich nicht imstande, die Frage aus eigener Kompetenz zu beantworten, sondern hielt es für notwendig, den EuGH im Rahmen einer Vorlagefrage anzurufen. Da die gesetzlichen Regelungen zum Massenentlassungsanzeigeverfahren nach § 17 ff. KSchG wesentlich durch das europäische Recht, insbesondere durch die sog. Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG beeinflusst werden und der EuGH die maßgebliche Instanz für die Auslegung europäischen Rechts ist, ist der Schritt des BAG richtig. Er zeigt aber auch, dass das BAG nicht ausschließt, dass eine Kündigung allein deswegen unwirksam sein könnte, weil der Arbeitgeber bei der Einleitung des – betriebsinternen und lediglich vorbereitenden – Konsultationsverfahrens vergisst, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten.
Die Entscheidung des EuGH darf nun mit Spannung erwartet werden. Sie ist aber voraussichtlich frühestens im kommenden Jahr zu erwarten. Bis dahin sind Arbeitgeber gut beraten, ein Schreiben nach § 17 Abs. 2 KSchG mit den im Rahmen des Konsultationsverfahrens maßgeblichen Angaben vorsorglich auch an die Agentur für Arbeit zu schicken.
Dr. Alexander Willemsen
2.3 Mitbestimmung des Betriebsrates bei Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Regelrentenalters
Die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über das Regelrenteneintrittsalter hinaus ist mitbestimmungspflichtig. Dies hat das BAG wenig überraschend entschieden. Die 2014 in das SGB VI eingefügte Regelung des § 41 S. 3 SGB VI zur Möglichkeit des einvernehmlichen Hinausschiebens des Renteneintritts könne zu keiner anderen Bewertung führen. Die innovativ anklingende Entscheidung ist letztlich alter Wein in neuen Schläuchen, gleichwohl in der Praxis nicht zu vernachlässigen, da andernfalls für wichtige Mitarbeiter Beschäftigungsverbote drohen können.
Der Arbeitgeber lag mit dem Betriebsrat in Streit, ob die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus der Zustimmung des Betriebsrates gem. § 99 Abs. 1 BetrVG bedarf. Das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer sollte aufgrund einer tariflichen Regelung mit Erreichen des gesetzlichen Regelalters enden., Dies verhinderten die Arbeitsvertragsparteien allerdings durch das Hinausschieben des Beendigungszeitpunkts gem. § 41 S. 3 SGB VI. Über diese Weiterbeschäftigung unterrichtete der Arbeitgeber den Betriebsrat, ersuchte ihn aber nicht um seine Zustimmung, wogegen sich der Betriebsrat gerichtlich wendete.
Das BAG gab dem Betriebsrat recht und stellte fest, dass die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über eine auf das Arbeitsverhältnis anwendbare Altersgrenze hinaus eine mitbestimmungspflichtige Einstellung nach § 99 Abs. 1 BetrVG darstellt (Beschluss vom 27.01.2022 – 7 ABR 22/20). Entscheidend sei, dass das Arbeitsverhältnis ohne die sog. Hinausschiebevereinbarung mit Erreichen der Altersgrenze geendet hätte, selbst wenn es keine zeitliche Zäsur gab. Anknüpfungspunkt für die Beteiligung des Betriebsrates sei daher die tatsächliche Weiterbeschäftigung über das vorgesehene Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus und nicht die Verlängerung des Arbeitsvertrages. Nach Auffassung der Erfurter Richter müsse eine erneute Beteiligung nach § 99 Abs. 1 BetrVG selbst dann erfolgen, wenn der Betriebsrat bei der ursprünglichen Einstellung seine Zustimmung zu einer dauerhaften Beschäftigung oder einer solchen auf unbestimmte Zeit erteilt habe.
Die Entscheidung des BAG steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Beschluss vom 18.07.1978 - 1 ABR 79/75) und vermag wenig überraschen, da nicht nur bei der erstmaligen Einstellung von Arbeitnehmern der Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG zu beteiligen ist. Was in der Praxis aufgrund der einmal erfolgten Beteiligung schnell in Vergessenheit geraten kann, ist aus arbeitsrechtlicher Sicht nur konsequent: Eine Beschäftigung über eine auslaufende Befristung hinaus ist eine Beschäftigung, zu der der Betriebsrat noch nicht seine Zustimmung erteilt hat. Dass auch die Hinausschiebevereinbarung nach § 41 S. 3 SGB VI hierfür keine Ausnahme darstellt, ist folgerichtig. Arbeitgeber sollten die Entscheidung zum Anlass nehmen die internen Prozesse zu prüfen, sodass auch bei einer fortgesetzten Beschäftigung nach Ablauf einer Befristung die Beteiligung des Betriebsrates gewahrt wird. Erfolgt dies nicht (ordnungsgemäß), kann der Betriebsrat gerichtlich die Verhängung eines Zwangsgelds gegen den Arbeitgeber anstreben. Auch kann daraus ein Beschäftigungsverbot für den Mitarbeiter folgen. Die Weiterbeschäftigung aufgrund einer regelmäßig zeitlich befristeten Hinausschiebevereinbarungen dürfte in der Praxis allerdings zumeist bereits beendet sein, bevor über eine vom Betriebsrat eingeleitete gerichtliche Auseinandersetzung rechtskräftig entschieden wird. Dem gerichtlichen Verfahren wird damit im Regelfall der Boden entzogen.
Alexandra Groth
2.4 Arbeitgeber haben Anspruch auf Einsicht in die Wahlunterlagen
Arbeitgeber haben grundsätzlich ein Recht auf Akteneinsicht in die Wahlunterlagen, um die Gültigkeit der Betriebsratswahl zu prüfen, ohne dass ein besonderes rechtliches Interesse hieran dargelegt werden muss und auch unabhängig von einem Wahlanfechtungs- oder Nichtigkeitsfeststellungsverfahren. Angesichts der derzeitigen turnusgemäß stattfindenden Betriebsratswahlen sollten Arbeitgeber dieses Recht nutzen, wenn sie Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Betriebsratswahl haben.
In dem vom LAG Berlin-Brandenburg entschiedenen Fall (Beschluss vom 05.08.2021 – 6 BVGa 7163/21) hatte die Arbeitgeberin im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens vom Betriebsrat vollständige Einsicht in die Wahlakten zur Betriebsratswahl vom 17.6.2021, die von der Arbeitgeberin angefochten worden war, sowie hilfsweise vollständige Einsicht in die Briefwahlunterlagen begehrt.
Anders als die Vorinstanz befand das LAG Berlin-Brandenburg, dass ein berechtigtes Interesse der Arbeitgeberin nicht Voraussetzung für ein Einsichtsrecht sein. Gemäß § 19 Wahlordnung müsse der Betriebsrat die Wahlakten nach seiner Wahl bis zum Ende seiner Amtszeit aufbewahren. Diese Aufbewahrungspflicht solle es ermöglichen, auch nach Abschluss der Betriebsratswahl vom Inhalt der Wahlakten Kenntnis zu nehmen, um die Ordnungsmäßigkeit der Betriebsratswahl überprüfen zu können. Diese Befugnis stehe nicht nur dem Betriebsrat zu, der die Wahlakten aufzubewahren habe und dessen Mitglieder deshalb jederzeit ohne Weiteres die Möglichkeit hätten, diese einzusehen. Vielmehr ergebe sich aus dem Zweck der Aufbewahrungspflicht ein berechtigtes Interesse all derjenigen an der Einsichtnahme in die Wahlakten, für die die Gültigkeit der Betriebsratswahl von Bedeutung sei. Das seien zumindest diejenigen Personen und Stellen, die nach § 19 Abs. 2 S 1 BetrVG berechtigt sind, die Betriebsratswahl anzufechten.
Zwar sei aufgrund des nach § 14 Abs. 1 BetrVG auch für die Betriebsratswahl gewährleisteten Wahlgeheimnisses dieses Einsichtsrecht der Arbeitgeberin nicht uneingeschränkt zu gewähren. Für Bestandteile der Wahlakten, aus denen Rückschlüsse auf das Wahlverhalten einzelner Arbeitnehmer gezogen werden können, sei die Einsichtnahme nur zulässig, wenn dies zur Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Wahl erforderlich sei. Hierfür genügte dem LAG Berlin-Brandburg jedoch der arbeitgeberseitige Vortrag, dass die Einsichtnahme in diese Unterlagen für die Prüfung von etwaigen Fehlern im Wahlverfahren erforderlich sei, die die Arbeitgeberin noch im Anfechtungsprozess vortragen könne und müsse.
Arbeitgeber müssen somit nicht „ins Blaue“ hinein auf der Grundlage von Gerüchten und Vermutungen Wahlanfechtungsverfahren führen. Vielmehr haben sie die Möglichkeit, die Ordnungsgemäßheit der Wahl im positiven wie negativen Sinne zu prüfen und ggf. festgestellte Fehler im Wahlanfechtungsverfahren vorzutragen – paritätisch zu dem Betriebsrat als Gegner des Wahlanfechtungsverfahrens, der ja selber uneingeschränkt Einsicht in die Wahlunterlagen nehmen kann.
Anja Dombrowsky
2.5 Kein Zustimmungsverweigerungsrecht bei einer mitbestimmungswidrigen Personalrichtlinie
Das Verwenden einer mitbestimmungswidrigen Auswahlrichtlinie führt nicht zu einer ungültigen personellen Einzelmaßnahme. Der Betriebsrat hat in dieser Hinsicht kein Zustimmungsverweigerungsrecht. Das hat das LAG Köln im Beschluss vom 19.11.2021 – 9 TaBV 15/21 entgegen herrschender Rechtsauffassung erstmalig entschieden.
In dem der Entscheidung des LAG Köln zugrundeliegenden Fall stritten die Beteiligten über die Zustimmung des Betriebsrats zur Einstellung des Leiters einer Rettungswache.
Der Arbeitgeber, ein Betreiber von mehreren Rettungswachen, wählte unter mehreren Bewerbern einen externen Bewerber für die Besetzung der offenen Stelle eines Rettungssanitäters mit Leitungsfunktion aufgrund einer vom Arbeitgeber ohne Beteiligung des Betriebsrates erstellten „Bewertungsmatrix“ aus. Der externe Bewerber erhielt nach der Matrix mehr Punkte als ein interner Bewerber, der zugleich Betriebsratsvorsitzende war. Der Betriebsrat verweigerte daraufhin die Zustimmung zu der Neueinstellung, da die Bewertungsmatrix ohne Mitbestimmung erstellt und damit unwirksam sei.
Wie das Erstgericht hielt auch die Berufungsinstanz keine Gründe für ein Zustimmungsverweigerungsrecht nach § 99 BetrVG für gegeben. Insbesondere begründe die Verwendung einer nicht mitbestimmten Auswahlrichtlinie kein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrates nach § 99 BetrVG.
Der Beschluss des LAG Köln ist aus Arbeitgebersicht zu begrüßen. Die Entscheidung des LAG Köln, eine mitbestimmungswidrige Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG allein begründe kein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrates nach § 99 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG, erfolgte entgegen der herrschenden Rechtsauffassung in der Literatur und in der Instanzrechtsprechung. Bereits vor einigen Jahren hatte das LAG Hamm nämlich entschieden, dass ein Betriebsrat seine Zustimmungsverweigerung auf einen Verstoß der personellen Einzelmaßnahme gegen eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG stützen könne (LAG Hamm, Beschluss vom 21.11.2008 - 13 TaBV 84/08). Die Revision gegen den Beschluss des LAG Köln ist beim BAG anhängig.
Für die Arbeitgeberpraxis empfiehlt sich strikt zwischen einer Auswahlrichtlinie, die ohne jegliche Beteiligung des Betriebsrates aufgestellt wurde, und der personellen Einzelmaßnahme an sich zu unterscheiden. Eine mitbestimmungswidrige Auswahlrichtlinie kann den Betriebsrat nicht zu einer Zustimmungsverweigerung nach § 99 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG veranlassen, die personelle Einzelmaßnahme bleibt bei einer mitbestimmungswidrigen Auswahlrichtlinie auch ohne Zustimmung des Betriebsrates gültig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dem Betriebsrat jeglicher Rechtsschutz bei einer nicht mitbestimmten Auswahlrichtlinie verwehrt bleibt. Der Betriebsrat kann wegen der Verletzung des durch § 95 Abs. 1 BetrVG verliehenen Mitbestimmungsrechts im Hinblick auf eine weitere Verwendung der mitbestimmungswidrigen Auswahlrichtlinie einen allgemeinen Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber geltend machen, um die Auswahlrichtlinie so außer Kraft zu setzen. Dies dürfte jedoch nicht die personelle Einzelmaßnahme verhindern, zu der der Betriebsrat seine Zustimmung ursprünglich verweigern wollte. Diese bleibt nach wie vor gültig. Mit großer Spannung bleibt daher abzuwarten, für welche Rechtsauffassung sich das BAG entscheiden wird.
3. Neue Gesetzgebung
3.1 Bundeskabinett hat Mindestlohnerhöhung beschlossen
Am 23.02.2022 hat das Bundeskabinett das Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn und zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung („Mindestlohnerhöhungsgesetz“) beschlossen. Die beabsichtigten Änderungen im Mindestlohngesetz, im SGB III undweiteren Gesetzen fassen wir hier zusammen. Im Falle der Umsetzung der Gesetze werden Unternehmen auch einigen Aufwand haben.
Gesetzlicher Eingriff in den Mindestlohn
Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien vom 24.11.2021 wurde vereinbart, den gesetzlichen Mindestlohn auf EUR 12,00 brutto pro Stunde zu erhöhen. Aktuell beträgt dieser seit 01.01.2022 EUR 9,82 brutto pro Stunde. Zum 01.07.2022 erfolgt eine Erhöhung auf EUR 10,45 brutto pro Stunde.
Das Bundeskabinett hat nun am 23.02.2022 beschlossen, den gesetzlichen Mindestlohn zum 01.10.2022 auf EUR 12,00 brutto. Über etwaige künftige Anpassungen wird dann wieder die Mindestlohnkommission entscheiden. Sie soll ihre nächste Anpassungsentscheidung bis zum 30.06.2023 mit Wirkung ab dem 01.01.2024 treffen.
Konsequent werden mit dem Gesetzesentwurf auch die für Ausnahmen von den Dokumentationspflichten nach §§ 16, 17 Mindestlohngesetz (MiLoG) geltenden Schwellenwerte in § 1 der Dokumentationspflichten der Mindestlohndokumentationspflichten-Verordnung (MiLoDokV) erhöht.
Änderungen für Minijob und Beschäftigte im Übergangsbereich
Zudem wird die Geringfügigkeitsgrenze von derzeit EUR 450 auf EUR 520 im Monat angehoben. Die neue Regelung orientiert sich an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen.
Die Höchstgrenze für Beschäftigte im Übergangsbereich (sog. „Midijobber“) wird von monatlich EUR 1.300 auf EUR 1.600 angehoben. Hierdurch soll der Anreiz geschafft werden, dass geringfügig Beschäftigte ihre Arbeitszeit über einen Minijob hinaus ausweiten. Außerdem sollen Midijobber weiter entlastet werden.
Der vom Kabinett beschlossene Gesetzesentwurf sieht für die Zukunft auch keine starren Grenzen mehr vor, sondern beinhaltet eine flexible „Geringfügigkeitsgrenze“, die sich an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientiert. D. h., dass mit den Steigerungen des Mindestlohns auch die Hinzuverdienstgrenze bei Beibehaltung der vereinbarten Arbeitszeit steigen kann.
Noch im Referentenentwurf war – etwas überraschend – eine weitgehende Pflicht zur Arbeitszeitdokumentation vorgesehen: § 17 MiLoG sollte dahingehend geändert werden, dass die Arbeitsleistung von Beschäftigten elektronisch und manipulationssicher zu erfassen sei. Diese Änderung wurde durch das Bundeskabinett im nun verabschiedeten Gesetz nicht übernommen.
Praktische Auswirkungen
Die Änderungen des Mindestlohns und die Einführung der zukünftig maßgeblichen Geringfügigkeitsgrenze führt dazu, dass sich die Unternehmen frühzeitig mit den Verträgen und der Vertragsumstellung für Minijobber und Beschäftigten im Übergangsbereich befassen müssen. Dabei ist zu beachten, dass eine Vergütungsanpassung bei sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen nicht zusammen mit einer Verlängerung der Befristung erfolgt. Anderenfalls droht nach der BAG-Rechtsprechung eine Entfristung des Vertrages.
3.2 Beschäftigung ukrainischer Staatsbürger und sonstiger Geflüchteter aus ukrainischem Staatsgebiet
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben Hundertausende das Land verlassen. Die Unterstützung der betroffenen Menschen durch Privatpersonen und Unternehmen mit Sach- und Geldspenden ist immens. Zusätzlich ziehen viele Unternehmen in Betracht, Geflüchteten auch Arbeit anzubieten. Vor allem diejenigen Unternehmen, die Arbeitnehmer in der Ukraine hatten, wollen diese häufig auch unmittelbar in Deutschland weiterbeschäftigen. Die wesentlichen Regelungen für die Beschäftigung Geflüchteter fassen wir hier zusammen.
Aufenthaltsrecht
Auf der Basis von Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20.07.2001 hat die EU am 04.03.2022 den Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes getroffen. Dieser ist am selben Tage veröffentlicht worden.
Diese Beschlussfassung ist Grundlage der Anwendbarkeit des § 24 AufenthG, der die Regelungen zur Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz enthält. Geflüchtete stellen einen Asylantrag, der zu einem Aufenthaltstitel führt. Dieses beinhaltet zugleich eine erkennungsdienstliche Erfassung (§ 16 AsylG).
Das Bundesinnenministerium hatam 07.03.2022 eine Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung erlassen. Die am 08.03.2022 veröffentlichte Verordnung sieht eine bis zum 23.05.2022 vorübergehende Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen vor.
Arbeitsmarktzugang
Grundsätzlich gilt, dass die Beschäftigung von Nicht-EU-Ausländern zulässig ist, wenn sie über einen Aufenthaltstitel verfügen, aus dem ausdrücklich die Erlaubnis der Beschäftigung („Arbeitserlaubnis“) hervorgeht.
Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben nach § 24 Abs. 6 AufenthG ist für Geflüchtete per se nur die selbständige Beschäftigung, nicht jedoch die Beschäftigung im Arbeitsverhältnis zugelassen. Eine solche Beschäftigung kann jedoch von der Ausländerbehörde erlaubt werden. § 31 BeschV bestimmt dabei, dass für die Aufnahme einer Beschäftigung die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nicht erforderlich ist, wenn dem Ausländer ein Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes – zu dem § 24 AufenthG zählt – erteilt wurde oder wird.
Demzufolge wird eine Beschäftigung von ukrainischen Geflüchteten, die einen Asylantrag gestellt haben, stets mit bewilligt. Die Bewilligung kann dabei mit Auflagen versehen werden.
Ergänzende Hinweise
Zum Teil wird vertreten, dass angesichts der oben genannten vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels eine Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis auch ohne vorherigen Asylantrag möglich ist. Davon ist eindeutig abzuraten. Besteht also der Wunsch, Geflüchtete zu beschäftigen, sollten diese einen Asylantrag zur Erlangung eines Aufenthaltstitels gestellt haben.
Der Aufenthaltstitel sollte in jedem Fall auf etwaige Nebenbestimmung geprüft werden.
Für die Beschäftigung von Geflüchteten gibt es keine Sonderregelungen, die bspw. ein abgesenktes Lohnniveau im Vergleich zu anderen im Betrieb Beschäftigten erlauben. In dem Maße sind vor allem die Regelungen des AGG und des MiLoG zu beachten.
Jörn Kuhn
Anja Dombrowsky
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