IT-Recht und Datenschutz / Prozessführung und Schiedsgerichtsverfahren05.05.2023 Newsletter
EuGH zu Art. 82 DSGVO: Kein Schadenersatz ohne Schaden!
1. Hintergrund
Der EuGH (C-300/21) hat mit Urteil vom 4. Mai 2023 klargestellt, dass ein datenschutzrechtlicher immaterieller Schadenersatzanspruch den Nachweis eines konkreten und kausalen Schadens voraussetzt. Eine Erheblichkeitsschwelle für die Geltendmachung eines Schadens im nationalen Recht ist nicht zulässig. Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für die Festsetzung von Schadenersatz durch die Gerichte richten sich nach nationalem Recht. Was teilweise selbstverständlich klingt, wurde von deutschen Gerichten bisher uneinheitlich entschieden und hat in der juristischen Literatur zu großen Diskussionen geführt. Bislang war unklar, wann ein immaterieller Schadenersatzanspruch unter der DSGVO besteht. Weitere Rechtsfragen zum Schadenersatz bleiben jedoch noch offen.
2. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Ausgangspunkt für die Entscheidung des EuGH war eine Datenerhebung der Österreichischen Post AG zu Parteiaffinitäten der österreichischen Bevölkerung. Die Post AG definiert seit dem Jahr 2017 anhand verschiedener soziodemografischer Merkmale mittels eines Algorithmus sog. „Zielgruppenadressen“ und berechnet bestimmte politische Präferenzen der Betroffenen.
Der österreichische Kläger, dessen Informationen ohne seine Einwilligung zu diesem Zwecke verarbeitet wurden und dem infolgedessen eine Affinität zu einer bestimmten Partei zugerechnet wurde, war hierüber erzürnt und beleidigt. Die zugeschriebene Affinität sei beschämend und kreditschädigend. Er klagte auf immateriellen Schadenersatz in Höhe von 1.000 €. Zur Begründung trägt er vor, dass das Verhalten der Österreichischen Post in ihm ein Gefühl der Bloßstellung ausgelöst habe.
Nachdem das erstinstanzliche Gericht und das Berufungsgericht dem Begehren eine Absage erteilt hatten, legte der Österreichische Oberste Gerichtshof dem EuGH zur Vorabentscheidung vor: (1) Wird ein immaterieller Schadenersatz gem. Art. 82 DSGVO allein durch eine Verletzung von Vorschriften der DSGVO begründet oder setzt dies zusätzlich einen (nachzuweisenden) eingetretenen Schaden bei der betroffenen Person voraus? (2) Bestehen für die Bemessung des Schadenersatzes neben den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz weitere Vorgaben des Unionsrechts? (3) Muss für den Zuspruch eines immateriellen Schadens eine Folge von einigem Gewicht vorliegen, die über den durch die Rechtsverletzung hervorgerufenen Ärger hinausgehen.
3. Schlussanträge des Generalanwalts
Der Generalanwalt Sánchez-Bordona positionierte sich in seinen Schlussanträgen entschieden gegen einen Schadenersatzanspruch ohne Schaden. Stattdessen gebiete die Einheit der Rechtsordnung eine Übertragung zivilrechtlicher Grundsätze. Die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schadensrechts verlange neben einem Rechtsverstoß zusätzlich einen Schaden bei der betroffenen Person. Andernfalls würde die Geldzuwendung keinen Schadenersatz darstellen, sondern einer strafrechtlichen Pönalisierung gleichen.
Weiterführend spricht sich der Generalanwalt dafür aus, dass der Schädigende eine Rechtsverletzung von zumindest einigem Gewicht begangen haben muss. Dies müsse schon gelten, weil jeder Verstoß gegen die DSGVO bei dem Betroffenen Unmut und Ärger hervorrufe. Für einen Schadenersatzanspruch seien daher weitere erlittene Nachteile zu verlangen. Im Ergebnis müsse ein nicht ersatzfähiger bloßer Ärger von echtem ersatzfähigem immateriellen Schaden abgegrenzt werden.
4. Entscheidung des EuGH
Der EuGH schließt sich in seinem Urteil weitgehend den Schlussanträgen des Generalanwalts an.
(a) Vorlagefragen 1 und 2: Kein Schadenersatz ohne Schaden
Der EuGH verlangt für den Schadenersatzanspruch nach Art. 82 DSGVO einen Schaden. Dies begründet er mit dem eindeutigen Wortlaut des Art. 82 DSGVO und der Systematik der Haftungsregelungen. Nach dem Wortlaut verlange ein Anspruch nach Art. 82 DSGVO drei kumulative Voraussetzungen: (i) einen Verstoß gegen die Bestimmungen der DSGVO, (ii) einen der betroffenen Person entstandenen Schaden und (iii) den Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Verarbeitung und dem Schaden. Die gesonderte Erwähnung eines „Schadens“ und eines „Verstoßes“ in Art. 82 DSGVO sei bei einer anderen Bewertung überflüssig. Die Analyse der Systematik der Haftungsregelungen bestätigt diesen Standpunkt. Die Verhängung von Sanktionen nach Art. 83 und 84 DSGVO verlangen keinen individuellen Schaden. Allerdings bestehe zwischen diesen Normen und Art. 82 DSGVO ein kategorischer Unterschied. Der immaterielle Schadenersatzanspruch verfolgt nämlich gerade keinen Strafzweck.
Die Bemessung der konkreten Schadenshöhe überlässt der EuGH den nationalen Gerichten. Da die DSGVO sich hierzu selbst nicht verhalte, können unter Beachtung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes nationale Kriterien für die Festlegung des Schadenersatzes herangezogen werden.
(b) Vorlagefrage 3: Nationale Erheblichkeitsschwelle
Der EuGH urteilt weiter, dass Art. 82 DSGVO einer nationale Erheblichkeitsschwelle entgegensteht und weicht damit von der Rechtsauffassung des Generalanwalts Sánchez-Bordona ab. Die materiellen Voraussetzungen für den Schadenersatz seien autonom und einheitlich nach Art. 82 DSGVO zu bestimmen. Aus der DSGVO ergebe sich aber ein weites Verständnis des Schadensbegriffs. Darüber hinaus widerspreche eine Erheblichkeitsschwelle der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts; andernfalls bestehe die Gefahr, dass die nationalen Gerichte den Begriff der Erheblichkeit unterschiedlich auslegen könnten.
Gleichzeitig betont der EuGH aber, dass der Betroffene einen konkreten immateriellen Schaden nachweisen muss. Dieser Darlegungslast dürfte der Betroffene aber wohl regelmäßig nur bei attestierbaren Beeinträchtigungen nachkommen können. Noch nicht absehbar ist also, ob eine Erheblichkeitsschwelle über diesen prozessualen Umweg in das materielle Recht Einzug findet.
5. Neues Verbandsklagerecht
Mit dieser Frage werden sich die deutschen Gerichte u.a. im Rahmen der Verbandsklage auseinanderzusetzen haben, die am 25. Juni 2023 in Kraft treten soll. Bereits jetzt kennt das deutsche Verfahrensrecht die Musterfeststellungsklage, mit der Verbraucherverbände für gleichgelagerte Verbraucheransprüche sog. Musterfeststellungen zu Sachverhalt und Rechtslage erwirken können. Allerdings mussten die Verbraucher die Leistung, also insbesondere Schadenersatz, aber trotzdem in einem anschließenden Individualklageverfahren geltend machen. Das soll sich nun ändern: Mit der sog. Abhilfeklage sollen Verbraucherverbände Schadensersatz- und andere Leistungsansprüche von Verbrauchern unmittelbar einklagen können. So sollen verbraucherrechtswidrige Geschäftspraktiken von Unternehmen flächendeckend beendet und Abhilfe geschaffen werden.
6. Fazit und Ausblick
Die Entscheidung des EuGH ist überwiegend zu begrüßen und schafft Klarheit in einer der wesentlichen Fragen zum Schadenersatz bei Datenschutzverstößen durch eine sachgerechte Auslegung des Art. 82 DSGVO. Einer Klageflut wird damit vorgebeugt, weil jeder Kläger einen kausalen konkreten (immateriellen) Schaden darlegen und nachweisen muss. Dass der EuGH keine Bagatellgrenze gezogen hat, dürfte zu verkraften sein, weil ein konkreter, kausaler Schaden dargelegt werden muss. Allerdings dürften an diesem Punkt die nationalen Gerichte weiterhin auf der Suche nach einer Linie sein, inwiefern durch Geltendmachung von Ärger oder Unmut ein solcher Nachweis erbracht werden kann.
Das Thema Schadenersatzklagen im Datenschutz ist besonders brisant, weil Verbraucher voraussichtlich bereits ab dem 25. Juni 2023 über die neue Verbandsklage ihre Ansprüche unkompliziert und risikolos durch Verbraucherverbände einklagen lassen können.
Der EuGH wird zeitnah in weiteren Angelegenheiten zu dem gegenständlichen Schadenersatzanspruch entscheiden. Nach Vorlage aus Bulgarien steht zur Entscheidung an, wer in diesem Zusammenhang die Beweislast für die Einhaltung technisch organisatorischer Maßnahmen trägt (C-340/21). Die deutschen Gerichte beteiligen sich lebhaft an der Konturierung des Art. 82 DSGVO: Das BAG (C-667/21) möchte geklärt wissen, ob der Anspruch spezial- oder generalpräventiven Charakter hat und ob bei der Schadensbemessung ein Verschulden zu berücksichtigen ist. Weitere Fragen hat der EuGH nach Vorlage des AG München (C-189/22 und C-182/22), des LG Saarbrücken (C-741/21), des LG Ravensburg (C-456/22) und des AG Hagen (C-687/21) zu beantworten.