Kartellrecht und Fusionskontrolle18.09.2024 Newsletter
EuGH stärkt Rechtssicherheit in der EU-Fusionskontrolle: Urteil im Fall Illumina/Grail
In einem wegweisenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH, C-611/22 P und C-625/22 P) die Prüfungskompetenz der EU-Kommission nach Art. 22 der Europäischen Fusionskontrollverordnung (FKVO) im Fall Illumina/Grail verneint. Danach ist die EU-Kommission nicht berechtigt, die Verweisung von geplanten Zusammenschlüssen ohne europaweite Bedeutung durch nationale Wettbewerbsbehörden an sie anzuregen oder zu akzeptieren, wenn diese nach nationalem Recht nicht für die Prüfung dieser Vorhaben zuständig sind.
Die Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf die Fusionskontrolle in der Europäischen Union. Einerseits stärkt sie die Rechtssicherheit für Unternehmen, die Transaktionen planen. Andererseits werden die Möglichkeiten der EU-Kommission, sogenannte „Killer Acquisitions“ zu prüfen, deutlich eingeschränkt.
Hintergrund der Entscheidung
Das US-amerikanische Unternehmen Illumina Inc. plante die Übernahme des Start-up-Unternehmens Grail, das auf innovative Bluttests zur Krebsfrüherkennung spezialisiert ist. Die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen erreichten die für die Fusionskontrolle in der EU erforderlichen Umsatzschwellen nicht, weshalb die Transaktion nicht bei der Europäischen Kommission angemeldet wurde. Auch in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bzw. den Vertragsstaaten des EWR wurde der Zusammenschluss nicht angemeldet, weil die Beteiligten die nationalen Umsatzschwellenwerte nicht erreichten und dadurch das Vorhaben nicht in den Geltungsbereich von nationalen Fusionskontrollregelungen fiel.
Die EU-Kommission forderte daraufhin mehrere nationale Wettbewerbsbehörden auf, einen Antrag nach Art. 22 FKVO zu stellen. Nach dieser Vorschrift kann die EU-Kommission auf Antrag eines oder mehrerer EU-Mitgliedstaaten Zusammenschlüsse auch dann prüfen, wenn der Anwendungsbereich der europäischen Fusionskontrolle nicht eröffnet ist, aber eine erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Binnenmarkt möglich ist.
Die ursprüngliche Intention dieser Regelung war es, EU-Mitgliedsstaaten ohne eigenes Fusionskontrollregime die Möglichkeit zu bieten, einen Fall an die EU-Kommission verweisen können. Die EU-Kommission vertrat jedoch eine deutlich weitergehende Auslegung des Art. 22 FKVO. Danach sollte ein EU-Mitgliedsstaat einen Fall zur Prüfung an die EU-Kommission auch dann verweisen können, wenn der Mitgliedstaat zwar über ein Fusionskontrollregime verfügt, die Transaktion aber nicht in dessen Zuständigkeit fällt.
Die EU-Kommission wollte damit eine vermeintliche Lücke in der Fusionskontrolle schließen, um sogenannte „Killer Acquisitions“ prüfen zu können. Dabei handelt es sich um Fälle, in denen hoch bewertete Start-ups durch große Unternehmen erworben werden. Aufgrund der geringen bis teilweise gar nicht vorhandenen Umsätze dieser Start-Ups bewegen sich solche „Killer Acquisitions“ in der Regel unterhalb der Aufgreifschwellen der EU-Kommission und der EU-Mitgliedstaaten.
In Anlehnung an die weite Auslegung der EU-Kommission verwies die französische Wettbewerbsbehörde gestützt auf Art. 22 FKVO den Fall Illumina/Grail im März 2021 an die EU-Kommission, obwohl die Beteiligten die Schwellenwerte des französischen Fusionskontrollregimes nicht überschritten. Die EU-Kommission nahm den Fall an und untersagte den Zusammenschluss im Jahr 2022. Da der Zusammenschluss bereits vollzogen war, verhängte die EU-Kommission zudem ein Rekordbußgeld von 432 Millionen Euro gegen Illumina und ordnete die Entflechtung des Zusammenschlusses an.
Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied, dass die EU-Kommission in diesem Fall nicht zuständig gewesen sei. Konkret stellte der Gerichtshof fest, dass Mitgliedstaaten, die selbst keine Zuständigkeit zur Prüfung eines Zusammenschlusses nach ihrem eigenen Fusionskontrollregime haben, diesen auch nicht über Art. 22 FKVO an die EU-Kommission verweisen dürfen. Dem Versuch der EU-Kommission, den Anwendungsbereich des Art. 22 FKVO auszuweiten, hat der EuGH damit einen Riegel vorgeschoben.
Der Gerichtshof hob hervor, dass die umsatzbasierten Schwellenwerte der FKVO und der nationalen Fusionskontrollregime ein zentrales Element der Fusionskontrolle darstellen. Sie bieten Unternehmen die notwendige Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit, um ihre Zusammenschlussvorhaben zu planen. Diese Klarstellung stärkt die Position von Unternehmen, die sich auf die Schwellenwerte der FKVO und der nationalen Fusionskontrollregelungen verlassen, um zu bestimmen, ob eine Anmeldung bei der EU-Kommission oder nationalen Behörden erforderlich ist.
Zudem steht nach dem Urteil des EuGH fest, dass die Untersagungs- und Bußgeldentscheidungen der EU-Kommission gegen Illumina keinen Bestand haben können. Die EU-Kommission war für die Entscheidung über den Fall nicht zuständig, und mangels Anmeldepflicht unterlagen Illumina und Grail auch keinem Vollzugsverbot.
Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil schränkt die Zuständigkeit der EU-Kommission zur Prüfung von Zusammenschlüssen erheblich ein. Zwar besteht weiterhin die Möglichkeit, dass EU-Mitgliedstaaten einen Fall unter den Voraussetzungen des Art. 22 FKVO nach Brüssel verweisen können, allerdings nur dann, wenn sie nach ihrem eigenen Fusionskontrollrecht für die Transaktion auch prüfungsbefugt sind.
Für Unternehmen bedeutet die Entscheidung des EuGH daher mehr Rechtsicherheit, weil sie sich wieder stärker auf die klaren Regeln des Schwellenwertesystems der Fusionskontrolle verlassen können und keine völlig unvorhersehbaren Prüfungen durch die EU-Kommission befürchten müssen.
Es ist allerdings damit zu rechnen, dass die EU-Kommission nun versuchen wird, die FKVO zügig anzupassen, um auch „Killer Acquisitions“ in Zukunft prüfen zu können. Zudem zeichnet sich ein zunehmender Trend in den EU-Mitgliedsstaaten ab, über ex-officio Aufgreifmöglichkeiten (sogenannte „call ins“) auch solche Transaktionen einer nationalen Fusionskontrolle zu unterziehen, die die jeweiligen Umsatzschwellenwerte der Mitgliedstaaten nicht erreichen. Entsprechende Regelungen gibt es z. B. in Dänemark, Irland, Italien, Schweden, Slowenien, Litauen, Lettland und Ungarn. Die Entwicklung zeigt daher in Richtung einer stetigen Zuständigkeitserweiterung von Kartellbehörden für die Prüfung von Zusammenschlüssen.