Private ClientsNachfolge, Vermögen, Stiftungen05.08.2022 Newsletter
BGH: Geltung des deutschen Pflichtteilsrechts trotz Rechtwahl zugunsten des englischen Rechts
Der BGH hat mit Urteil vom 29.06.2022 (Az. IV ZR 110/21) entschieden, dass die Anwendung des englischen Erbrechts aufgrund einer Rechtswahl in der letztwilligen Verfügung gegen den deutschen ordre public verstößt, wenn dadurch Kindern des Erblassers der bedarfsunabhängige Pflichtteilsanspruch entzogen wird und ein hinreichender Inlandsbezug besteht. Der BGH bestätigt damit die vorangegangene Entscheidung des OLG Köln (Urt. v. 22.04.2021 – 24 U 77/20, ZEV 2021, 698).
In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt hatte der Erblasser, der die englische Staatsbürgerschaft besaß und seit über 50 Jahren in Deutschland gelebt hatte, testamentarisch für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht gewählt. Der von dem Erblasser adoptierte Kläger, der durch das Testament von der Erbfolge ausgeschlossen wurde, begehrte gem. § 2314 BGB Auskunft über den Bestand des Nachlasses unter Berufung auf sein (deutsches) Pflichtteilsrecht.
Nachdem der BGH zunächst die grundsätzliche Zulässigkeit dieser Rechtswahl gem. Art. 22 Abs. 1, 83 Abs. 4 EuErbVO bestätigte, nahm er umfassend zu der Frage Stellung, ob die Anwendung des englischen Rechts dennoch im konkreten Fall mit dem deutschen ordre public unvereinbar und damit unanwendbar ist (Art. 35 EuErbVO):
„Entgegen der Ansicht der Revision ist die Anwendung englischen Rechts jedenfalls im hier zur Entscheidung stehenden Fall mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar (Art. 35 EuErbVO). Denn das englische Recht steht zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung im hiesigen Fall untragbar ist. Dies hat zur Folge, dass es hier keine Anwendung findet.“ Rn. 11
In diesem Zusammenhang wies der BGH zunächst auf die im Grundgesetz verankerte Erbrechtsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG hin, die nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kindern grundsätzlich eine unentziehbare und bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung am Nachlass einräume. Das Pflichtteilsrecht der Kinder schütze die durch die Abstammung begründete familienrechtliche Bindung über den Tod hinaus und beschränke insoweit die Testierfreiheit.
„Das Pflichtteilsrecht ist als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 (BVerfGE 112, 332 ff.) klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter im Sinne einer grundsätzlich unentziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zukommt. Dies folgt aus der Familiensolidarität und der hieraus abgeleiteten familienschützenden Funktion des Pflichtteilsrechts (vgl. BVerfGE aaO [juris Rn. 64 ff.]). Art. 6 Abs. 1 GG schützt das Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander sowohl materiell als auch persönlich Verantwortung zu übernehmen.“ Rn. 14
Eine entsprechende Gewährleistung existiere nach dem BGH im englischen Recht nicht. Die maßgeblichen Regelungen des Inheritance Act 1975 enthielten keinen dem deutschen Recht vergleichbaren Pflichtteilsanspruch. Es sei lediglich ein finanzieller Ausgleich im Sinne eines Unterhaltsanspruches von Abkömmlingen vorgesehen, der jedoch im Ermessen des Gerichts liege und von zahlreichen Umständen, wie der Bedürftigkeit des Kindes, abhänge. Voraussetzung für einen solchen Ausgleichsanspruch sei zudem, dass der Erblasser sein letztes „domicile“, welcher nicht mit dem deutschen Begriff des Wohnsitzes gleichzusetzen sei, in England oder Wales hatte. Im Ergebnis bestehe daher nach englischen Recht weder ein bedarfsunabhängiger Pflichtteils- noch ein vergleichbarer Kompensationsanspruch im konkreten Fall, was mit den Grundgedanken des deutschen Pflichtteilsrechts und damit dem inländischen ordre public unvereinbar sei.
Die Entscheidung wird erheblichen Einfluss auf die Beratungspraxis bei grenzüberschreiten Sachverhalten in der Nachfolgeplanung haben. Die Verhinderung von Pflichtteilsansprüchen durch Rechtswahl zugunsten einer Rechtsordnung ohne entsprechendes Pflichtteilsrecht dürfte sich vor dem Hintergrund dieses Urteils als deutlich risikobehafteter darstellen, in der Regel sogar ausgeschlossen sein. Hiermit stellt der BGH sich gegen neuere Entscheidungen in anderen europäischen Jurisdiktionen, die die pflichtteilsausschließende Rechtswahl nicht als ordre public Verstoß sehen, so in Frankreich, Österreich oder Italien. Offen bleibt, ob ein Verstoß gegen den deutschen ordre public auch dann besteht, wenn nach dem gewählten Recht ein geringeres Pflichtteilsrecht besteht. Der BGH führte insofern aus, dass sich eine pauschale Betrachtungsweise verbiete, wodurch eine Rechtsunsicherheit für die grenzüberschreitende Nachfolgeplanung in diesen Konstellationen verbleibt.
Mandanten ausländischer Nachfolgeplanung, aber starken Bezügen zu Deutschland, sollten die Entscheidung zum Anlass nehmen, ihre Nachfolgeplanung auf ihre Pflichtteilsfestigkeit zu prüfen.