Arbeitsrecht19.05.2022 Newsletter
BAG zu Angaben in Massenentlassungsanzeige: „Soll“ ist doch kein „Muss“
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat heute eine Rechtsprechung des Hessischen Landesarbeitsgerichtes korrigiert, die in den vergangenen Monaten für Wirbel gesorgt hat (Urt. v. 19.5.2022 – 2 AZR 467/21, Pressenmitteilung 18/22). Nach Auffassung der Vorinstanz, des Hessischen Landesarbeitsgerichts (LAG) sollten Angaben, die in den offiziellen Formularen der Agentur für Arbeit nur als freiwillige, sog. „Soll-Angaben“ gekennzeichnet waren, Voraussetzung für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige sein. Fehlten diese Angaben, so war die Massenentlassungsanzeige und alle auf ihr beruhenden Kündigungen nach Auffassung des Hessischen LAG unwirksam. Dem folgte das BAG in seiner Entscheidung nicht.
Soll- und Muss-Angaben in einer Massenentlassungsanzeige
Nach der Europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL) und § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) ist ein Arbeitgeber verpflichtet, bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu erstatten, in der bestimmte Angaben zum Betrieb, zur Belegschaft und zu den von Kündigung betroffenen Arbeitnehmern enthalten sein sollen. Nach der Rechtsprechung des BAG ist die ordnungsgemäße Erstattung einer Massenentlassungsanzeige Voraussetzung für die Wirksamkeit der darauf beruhenden betriebsbedingten Kündigungen (vgl. BAG, Urteil vom 22.1.2012 – 2 AZR 371/11).
Unter § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG ist geregelt, welche Angaben der Arbeitgeber in der Massenentlassungsanzeige machen muss. Zu den sog. „Muss-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG gehören u.a. Angaben zum Arbeitgeber, Sitz und Art des Betriebes, Hintergründe für die geplanten Entlassungen, Zahl und Berufsgruppen der Beschäftigten und zur Entlassung vorgesehenen Arbeitnehmer sowie der Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen. In § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG sind hingegen die sog. „Soll-Angaben“ genannt, also Informationen zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer, die der Arbeitgeber in der Massenentlassungsanzeige machen soll.
Die offiziellen Formulare der Agentur für Arbeit, die Arbeitgeber zur Erstattung der Massenentlassungsanzeige auszufüllen haben, greifen diese Differenzierung zwischen „Muss-Angaben“ und „Soll-Angaben“ auf und machen dementsprechend kenntlich, welche Angaben der Arbeitgeber zwingend in die Anzeige mit aufzunehmen hat und welche Angaben freiwillig sind. Dementsprechend enthält das Formblatt für die Massenentlassungsanzeige auch den Hinweis, dass alle Angaben i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG freiwillig sind und auch später nachgereicht werden können. Im zugehörigen Merkblatt für Arbeitgeber der Agentur für Arbeit wird zu den Sollangaben ausdrücklich ausgeführt, dass diese Angaben freiwillig seien und nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige seien.
Aus „Soll“ wird „Muss“
Zwei Entscheidungen der 14. Kammer des Hessischen LAG vom 18.6.2021 (AZ: 14 Sa 1228/20) und vom 25.6.2021 (AZ: 14 Sa 1225/20) sorgten für viel Wirbel in der Fachwelt, weil hier die Differenzierung zwischen den „Muss-Angaben“ und „Soll-Angaben“ aufgehoben wurde und beide Urteile die Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige feststellten, wenn nicht auch die „Soll-Angaben“ in der Anzeige enthalten seien.
Zur Begründung führte das Hessische LAG aus, dass nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 4 S. 1 MERL alle zweckdienlichen Angaben in die Massenentlassungsanzeige aufzunehmen seien, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stünden. Hierbei sei kein Unterschied zwischen Soll- und Muss-Angaben zu machen. Der Unterschied zwischen beiden Kategorien liege lediglich darin, dass der Arbeitgeber stets über alle „Muss-Angaben“ verfügen müsse, während die „Soll-Angaben“ nicht aus seiner Sphäre stammten und daher nur insoweit anzugeben seien, wie sie dem Arbeitgeber vorlägen.
Unsicherheit in der Praxis
Die Entscheidung führte zu erheblicher Kritik in der Fachwelt und von weiteren Gerichten. So sah sich das LAG Düsseldorf in einem Urteil vom 15.12.2021 (AZ: 12 Sa 349/21) veranlasst, deutlich zu machen, dass es die Rechtsprechung des Hessischen LAG ablehne und seiner Auffassung nach weiterhin nur die „Muss-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG zwingend in die Massenentlassungsanzeige mit aufgenommen werden müssten.
Die Folge war eine große Verunsicherung in der Praxis, wie mit „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchg umzugehen sei. Vielfach wurde dazu übergangen, vorsorglich auch die „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG in die Massenentlassungsanzeige mit aufzunehmen, was im Einzelfall den Aufwand für die Erstellung der Massenentlassungsanzeige erheblich vergrößerte und die Umsetzung von Personalmaßnahmen mitunter verzögerte.
BAG stellt klar: „Soll“ ist kein „Muss“
Das BAG hat der Rechtsprechung des Hessischen LAG im heutigen Urteil eine klare Absage erteilt. Dabei hätte es diesen Punkt eigentlich gar nicht ansprechen müssen: Nach den Feststellungen des BAG ließe sich nämlich schon nicht beurteilen, ob überhaupt eine Massenentlassung vorlag, weil das Hessische LAG die entsprechenden Voraussetzungen (u.a. Ausspruch einer jeweiligen Mindestanzahl von Kündigungen innerhalb eines bestimmten 30-Tages-Zeitraumes) nicht hinreichend geprüft hat. Insofern hat das BAG das Urteil des Hessischen LAG aufgehoben und die Angelegenheit zurückverwiesen.
Dennoch nahm das BAG das Urteil zum Anlass, um die in der Praxis herrschende Unsicherheit mit (für das Hessische LAG schmerzhafter) Deutlichkeit zu beseitigen: Ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG – also fehlende „Soll-Angaben“ in der Massenentlassungsanzeige – führten nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Nationale Gerichte dürften sich über die gesetzgeberische Entscheidung nicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung hinwegsetzen. Eine solche sei ohnehin nicht geboten, weil der EuGH geklärt habe, dass die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG vorgesehenen „Soll-Angaben“ nicht gemäß der Massenentlassungsrichtlinie in der Anzeige enthalten sein müssten.
Frau Spelge, die Vorsitzende Richterin des 2. Senates am BAG, hatte bereits in einem Beitrag aus dem Jahre 2018 deutlich gemacht, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Voraussetzungen eines wirksamen Massenentlassungsanzeigeverfahrens eine fast „unlösbare Aufgabe“ darstelle (vgl. RdR 2018, 297 ff.). Scheinbar in diesem Geist hat Frau Spelge das Verfahren vor dem 2. Senat des Bundesarbeitsgerichtes geleitet. Bemerkenswert an der Entscheidung – die bislang lediglich als Pressemitteilung vorliegt – ist nicht nur die überaus kurze Verfahrensdauer, die eine möglichst schnelle Beseitigung der Verunsicherung in der Fachwelt ermöglicht hat und zeigt, wie groß das Bedürfnis des BAG gewesen sein muss, die beiden „falschen“ Entscheidungen des Hessischen LAG zu korrigieren. Auffällig ist nämlich auch, mit welcher Deutlichkeit das BAG die Rechtsprechung des Hessischen LAG zurückweist. Nicht oft wird die Vorinstanz durch die Erfurter Richter derart deutlich zurechtgewiesen.
Fazit
Die Praxis darf indes aufatmen: Es bleibt alles beim Alten.
Insofern ist es zwar zu begrüßen, dass das BAG hier schnell und vor allem deutlich „korrigiert“ hat. Die Kritik, die die Vorsitzende des 2. Senates Frau Spelge bereits im Jahre 2018 am Massenentlassungsanzeigeverfahren vorgebracht hat, bleibt aber. Nur dass das Verfahren nach dem heutigen Urteil nicht noch schwieriger geworden ist, als es ohnehin schon ist, stellt dann doch keine Erleichterung für die Praxis dar.